Nach der Besinnung die Odyssee
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen! Ein Freiwilligendienst
in New Delhi bedeutet neben Arbeit auch eine Menge Freizeit. Anders als im
Vertrag festgelegt, muss ich nur sechs Stunden am Tag in der Schule verbringen,
inklusive einer halbstündigen Mittagspause. Da bleibt nach Dienstschluss um 16
Uhr noch jede Menge Zeit, die ich jedoch selten so gut nutze wie am Donnerstag.
Während ich am Wochenende gerne meiner Rolle gerecht werde und ein bisschen
Tourist spiele, stand dieses Mal in der Woche das Eintauchen in die Sikh-Kultur
auf dem Programm. Lucas, ein anderer Freiwilliger aus Delhi, hatte Joey und mir
vorgeschlagen, doch einmal mit ihm in den Sikh-Tempel zu gehen. Eine super
Idee! Nur die langen Fahrten in der zwar klimatisierten, aber chronisch
überfüllten Metro rauben mir meistens den letzten Nerv. Da kam die Besinnung im
Tempel gerade recht.
Zugegeben, ich habe mich noch nicht umfassend über die Sikhs
informiert. Ein freundlicher Mann hat uns allerdings im Gespräch vor dem Tempel
einen Crash-Kurs in seiner Religion gegeben. Äußerlich sind die männlichen
Sikhs nicht zu übersehen: Sie tragen einen Turban, unter dem sie ihre Haare
verbergen, die sie – streng genommen – ihr Leben lang nicht schneiden dürfen.
Gleiches gilt für die Barthaare, weshalb erwachsene Sikhs mit einem Vollbart
herumlaufen. Die Sikhs gehören traditionell zur Mittel- bis Oberschicht. Sie
sind stark im Handel vertreten und bekleiden in der Regel wichtige Positionen.
So ist zum Beispiel auch der indische Premierminister Singh ein Sikh. Inhaltlich
fasse ich die Religion (teilweise Wikipedia) kurz zusammen, so gut ich es eben
weiß: Hauptbestandteil des Sikhismus ist die Meditation. Darüber hinaus sehen
sich die Sikhs als Beschützer der Armen, was sich im später beschriebenen
Verhalten gegenüber den sozial Schwachen der Gesellschaft ausdrückt. Sie
glauben an eine Kraft, die als ein Gott angesehen werden kann. Dieser ist weder
männlich oder weiblich. Überhaupt ist die Emanzipation der Frau weit
fortgeschritten und dem „sozial ausgerichteten Familienleben“ (Wikipedia) wird
eine große Bedeutung beigemessen. Im Sikh-Tempel ist jeder willkommen, egal
welcher Religion er angehört. Bei unserem Besuch verhielten wir uns nach bestem
Wissen: Zunächst zogen wir die Schuhe aus und wuschen uns Hände und Füße. Vor
dem Betreten des Tempels knieten wir nieder und berührten den Boden. Drinnen
angekommen, setzten wir uns im Schneidersitz auf den Teppichboden und
meditierten oder beteten. Es herrscht absolute Ruhe im Sikh-Tempel, jeder lauscht
den Klängen der Musik und des Gesangs der Priester, die jeden Tag eine zufällig
aufgeschlagene Seite aus der heiligen Schrift vorlesen. Beim Verlassen des
Tempels bekommt jeder Besucher eine kleine Süßspeise und etwas Wasser mit auf
den Weg. Nun bleibt noch Zeit, um den künstlich angelegten See zu spazieren
oder eine kostenlose Mahlzeit in der Gemeinschaftsküche einzunehmen.
Freiwillige Helfer bereiten hier Essen zu, dass jeder, unabhängig vom Einkommen
und sozialem Status, bekommt. In der Sikh-Religion gibt es nämlich kein
Kastenwesen. Die Beschützer der Armen bieten in ihren Tempeln auch Obdachlosen
die Möglichkeit, unter einem Dach im Freien zu schlafen. Irgendwie muss ich
unserem „Lehrer“, der uns die Religion näher brachte, zustimmen, als er sagt,
dass alle Religionen von Nächstenliebe sprächen, die Sikhs sie aber
praktizierten. Ich habe selten eine so friedliebende und Fremden offenstehende
Religion kennengelernt. Nachdem ich die Sikhs vorher aus Unwissen immer in eine
Schublade mit Muslimen gesteckt habe – Assoziation: bärtiger Mann mit Turban –
habe ich nun ein differenziertes Bild von ihnen. Und die Moral dieser
Geschicht‘, verpasse deine Chancen nicht. Jetzt steht demnächst mal der Besuch
eines Hindu-Tempels an. Und irgendwann innerhalb dieses Jahres werde ich auch
noch die sechs Stunden Zugfahrt nach Amritsar an der pakistanischen Grenze auf
mich nehmen, um den größten Sikh-Tempel der Welt zu sehen.
Das war also der kulturelle Teil meiner Freizeit. Am Samstag
folgte dann der touristische. Allein war ich auf dem Connaught Place unterwegs,
Delhis touristischem Herz. Joey war mit anderen Freiwilligen und zwei reichen
Indern, die seit längerem schon mit den deutschen Freiwilligen befreundet sind,
losgegangen. Ich befolgte dagegen den Rat der Ärzte und ließ es ruhiger
angehen. Schließlich will ich nicht riskieren, bald wieder krank im Bett zu
liegen. Ich fühle mich von Tag zu Tag weniger schwach und hoffe deshalb auf das
nächste Wochenende.
Was wollte ich überhaupt am Connaught Place, zu dem ich mit
der Metro immerhin auch eine halbe Stunde brauche? Im „Lonely Planet“, meinem
Reiseführer, wurde der „Oxford Bookstore“, ein riesiger Buchladen im
Untergeschoss des „Statesman House“ empfohlen. Um meine Odyssee über den
riesigen Platz nachvollziehen zu können, sei kurz etwas zu seinem Aufbau
gesagt. Der Connaught Place ist kreisförmig, es gibt einen inneren und äußeren
Kreis. Mein Plan, mich bis zum Block G, in dem das Statesman House liegt,
durchzufragen, war eine Schnapsidee. Ich werde wohl nie aus dem Mund eines
Inders die Antwort „Ich weiß es nicht!“ hören. Wenn man zehn Inder nach einem
Weg fragt, wird man im schlimmsten Fall zehn verschiedene Antworten hören.
Einer erzählte mir, der Buchladen habe heute schon zu, auch wenn der
Reiseführer etwas anderes erzählte. Ich vertraute dem „Lonely Planet“… Während
meiner Suche lernte ich so einige Inder kennen. Einen sehr geschäftigen
Rikscha-Fahrer musste ich abweisen, was ihn nicht daran hinderte, mich in eines
der vielen Standard-Gespräche zu verwickeln. Stets muss ich dann beantworten,
wo ich herkomme, was ich in Delhi mache und wie lange ich hier bleibe. Jetzt
sind die Inder am Zug, und es ist verblüffend, wie viele angeblich schon einmal
in Deutschland waren oder irgendwelche Verbindungen dorthin haben. Nach meiner
Rückkehr werde ich beantragen, Hamburg in „New New Delhi“ umzubenennen, so
viele Inder wie dort leben müssen. Zwei
Geschäftsleute, die mich auf typisch indische Art einfach so ansprachen, haben
dort beispielsweise auch einen Bekannten. Andere versuchten nur Geschäfte zu
machen. Ein Rikscha-Fahrer versuchte mir weis zu machen, dass ich unbedingt am
Samstag noch mit ihm fahren müsse: „Heute sehr billig, morgen sehr teuer!“ Ich
verstand die Logik dahinter nicht, und er wohl nicht, dass ich gar nicht woanders
hin wollte. Zufälligerweise kam ich über einen Basar, auf dem ich mir eine
leichte Hose und ein Hemd kaufen wollte. Warum sind die Verkäufer bloß bei mir
alle so geschäftig? Und warum sind die aufgerufenen Preise nur so hoch?
Letztendlich bezahlte ich für beides zusammen an zwei verschiedenen Ständen 500
Rupien, umgerechnet rund sieben Euro. Bei der Hose holte ich mir den Rat eines
vertrauenswürdigen Inders ein, der sagte, er würde 300 Rupien dafür bezahlen.
Ich war zwar immer noch unsicher, ob ich nicht über‘s Ohr gehauen wurde, doch
Gagan beruhigte mich: Die Preise, die ich bezahlt habe, waren für ihn zwar das
Maximum, aber weniger ist für einen augenscheinlichen Ausländer wie mich wohl
kaum drin. Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen stolz war. Erst recht, als
ich dann das Statesman House gefunden hatte. Jetzt musste ich nur noch den
Buchladen sehen! Ich ging zu einer Einfahrt für Autos und befragte die
Wachmänner. Leider sprechen die oftmals kaum ein Wort Englisch, zu meinem
Leidwesen verstand ich sie aber doch: Der Oxford Bookstore existiert nicht
mehr, offenbar ist er seit einem Jahr geschlossen. Letztlich ging ich zu einem
der vielen Straßenstände, an denen Bücher verkauft werden und erwarb einen
Grisham-Roman zum Festpreis von fünf Euro. An einem anderen Stand hatte ich das
Buch mit dem Titel „Mein Kampf“ dann doch links liegen gelassen.
Aber die deutsche
Vergangenheit ist den Indern eh schwer vermittelbar, wie wir bei einem Gespräch
am Ufer des Sikh-Tempel-Sees feststellen mussten. Am Ende haben wir unserem
Gesprächspartner dann hoffentlich erklären können, warum wir nicht stolz auf
Adolf Hitler sind, obwohl er doch angeblich so viel Gutes für Deutschland
wollte. Als Deutscher im Ausland hat man leider auch im 21. Jahrhundert noch
eine Sonderrolle inne…
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