Montag, 8. Oktober 2012


Nach der Besinnung die Odyssee


Erst die Arbeit, dann das Vergnügen! Ein Freiwilligendienst in New Delhi bedeutet neben Arbeit auch eine Menge Freizeit. Anders als im Vertrag festgelegt, muss ich nur sechs Stunden am Tag in der Schule verbringen, inklusive einer halbstündigen Mittagspause. Da bleibt nach Dienstschluss um 16 Uhr noch jede Menge Zeit, die ich jedoch selten so gut nutze wie am Donnerstag. Während ich am Wochenende gerne meiner Rolle gerecht werde und ein bisschen Tourist spiele, stand dieses Mal in der Woche das Eintauchen in die Sikh-Kultur auf dem Programm. Lucas, ein anderer Freiwilliger aus Delhi, hatte Joey und mir vorgeschlagen, doch einmal mit ihm in den Sikh-Tempel zu gehen. Eine super Idee! Nur die langen Fahrten in der zwar klimatisierten, aber chronisch überfüllten Metro rauben mir meistens den letzten Nerv. Da kam die Besinnung im Tempel gerade recht.
Zugegeben, ich habe mich noch nicht umfassend über die Sikhs informiert. Ein freundlicher Mann hat uns allerdings im Gespräch vor dem Tempel einen Crash-Kurs in seiner Religion gegeben. Äußerlich sind die männlichen Sikhs nicht zu übersehen: Sie tragen einen Turban, unter dem sie ihre Haare verbergen, die sie – streng genommen – ihr Leben lang nicht schneiden dürfen. Gleiches gilt für die Barthaare, weshalb erwachsene Sikhs mit einem Vollbart herumlaufen. Die Sikhs gehören traditionell zur Mittel- bis Oberschicht. Sie sind stark im Handel vertreten und bekleiden in der Regel wichtige Positionen. So ist zum Beispiel auch der indische Premierminister Singh ein Sikh. Inhaltlich fasse ich die Religion (teilweise Wikipedia) kurz zusammen, so gut ich es eben weiß: Hauptbestandteil des Sikhismus ist die Meditation. Darüber hinaus sehen sich die Sikhs als Beschützer der Armen, was sich im später beschriebenen Verhalten gegenüber den sozial Schwachen der Gesellschaft ausdrückt. Sie glauben an eine Kraft, die als ein Gott angesehen werden kann. Dieser ist weder männlich oder weiblich. Überhaupt ist die Emanzipation der Frau weit fortgeschritten und dem „sozial ausgerichteten Familienleben“ (Wikipedia) wird eine große Bedeutung beigemessen.  Im Sikh-Tempel ist jeder willkommen, egal welcher Religion er angehört. Bei unserem Besuch verhielten wir uns nach bestem Wissen: Zunächst zogen wir die Schuhe aus und wuschen uns Hände und Füße. Vor dem Betreten des Tempels knieten wir nieder und berührten den Boden. Drinnen angekommen, setzten wir uns im Schneidersitz auf den Teppichboden und meditierten oder beteten. Es herrscht absolute Ruhe im Sikh-Tempel, jeder lauscht den Klängen der Musik und des Gesangs der Priester, die jeden Tag eine zufällig aufgeschlagene Seite aus der heiligen Schrift vorlesen. Beim Verlassen des Tempels bekommt jeder Besucher eine kleine Süßspeise und etwas Wasser mit auf den Weg. Nun bleibt noch Zeit, um den künstlich angelegten See zu spazieren oder eine kostenlose Mahlzeit in der Gemeinschaftsküche einzunehmen. Freiwillige Helfer bereiten hier Essen zu, dass jeder, unabhängig vom Einkommen und sozialem Status, bekommt. In der Sikh-Religion gibt es nämlich kein Kastenwesen. Die Beschützer der Armen bieten in ihren Tempeln auch Obdachlosen die Möglichkeit, unter einem Dach im Freien zu schlafen. Irgendwie muss ich unserem „Lehrer“, der uns die Religion näher brachte, zustimmen, als er sagt, dass alle Religionen von Nächstenliebe sprächen, die Sikhs sie aber praktizierten. Ich habe selten eine so friedliebende und Fremden offenstehende Religion kennengelernt. Nachdem ich die Sikhs vorher aus Unwissen immer in eine Schublade mit Muslimen gesteckt habe – Assoziation: bärtiger Mann mit Turban – habe ich nun ein differenziertes Bild von ihnen. Und die Moral dieser Geschicht‘, verpasse deine Chancen nicht. Jetzt steht demnächst mal der Besuch eines Hindu-Tempels an. Und irgendwann innerhalb dieses Jahres werde ich auch noch die sechs Stunden Zugfahrt nach Amritsar an der pakistanischen Grenze auf mich nehmen, um den größten Sikh-Tempel der Welt zu sehen.

Das war also der kulturelle Teil meiner Freizeit. Am Samstag folgte dann der touristische. Allein war ich auf dem Connaught Place unterwegs, Delhis touristischem Herz. Joey war mit anderen Freiwilligen und zwei reichen Indern, die seit längerem schon mit den deutschen Freiwilligen befreundet sind, losgegangen. Ich befolgte dagegen den Rat der Ärzte und ließ es ruhiger angehen. Schließlich will ich nicht riskieren, bald wieder krank im Bett zu liegen. Ich fühle mich von Tag zu Tag weniger schwach und hoffe deshalb auf das nächste Wochenende.
Was wollte ich überhaupt am Connaught Place, zu dem ich mit der Metro immerhin auch eine halbe Stunde brauche? Im „Lonely Planet“, meinem Reiseführer, wurde der „Oxford Bookstore“, ein riesiger Buchladen im Untergeschoss des „Statesman House“ empfohlen. Um meine Odyssee über den riesigen Platz nachvollziehen zu können, sei kurz etwas zu seinem Aufbau gesagt. Der Connaught Place ist kreisförmig, es gibt einen inneren und äußeren Kreis. Mein Plan, mich bis zum Block G, in dem das Statesman House liegt, durchzufragen, war eine Schnapsidee. Ich werde wohl nie aus dem Mund eines Inders die Antwort „Ich weiß es nicht!“ hören. Wenn man zehn Inder nach einem Weg fragt, wird man im schlimmsten Fall zehn verschiedene Antworten hören. Einer erzählte mir, der Buchladen habe heute schon zu, auch wenn der Reiseführer etwas anderes erzählte. Ich vertraute dem „Lonely Planet“… Während meiner Suche lernte ich so einige Inder kennen. Einen sehr geschäftigen Rikscha-Fahrer musste ich abweisen, was ihn nicht daran hinderte, mich in eines der vielen Standard-Gespräche zu verwickeln. Stets muss ich dann beantworten, wo ich herkomme, was ich in Delhi mache und wie lange ich hier bleibe. Jetzt sind die Inder am Zug, und es ist verblüffend, wie viele angeblich schon einmal in Deutschland waren oder irgendwelche Verbindungen dorthin haben. Nach meiner Rückkehr werde ich beantragen, Hamburg in „New New Delhi“ umzubenennen, so viele Inder wie dort leben müssen.  Zwei Geschäftsleute, die mich auf typisch indische Art einfach so ansprachen, haben dort beispielsweise auch einen Bekannten. Andere versuchten nur Geschäfte zu machen. Ein Rikscha-Fahrer versuchte mir weis zu machen, dass ich unbedingt am Samstag noch mit ihm fahren müsse: „Heute sehr billig, morgen sehr teuer!“ Ich verstand die Logik dahinter nicht, und er wohl nicht, dass ich gar nicht woanders hin wollte. Zufälligerweise kam ich über einen Basar, auf dem ich mir eine leichte Hose und ein Hemd kaufen wollte. Warum sind die Verkäufer bloß bei mir alle so geschäftig? Und warum sind die aufgerufenen Preise nur so hoch? Letztendlich bezahlte ich für beides zusammen an zwei verschiedenen Ständen 500 Rupien, umgerechnet rund sieben Euro. Bei der Hose holte ich mir den Rat eines vertrauenswürdigen Inders ein, der sagte, er würde 300 Rupien dafür bezahlen. Ich war zwar immer noch unsicher, ob ich nicht über‘s Ohr gehauen wurde, doch Gagan beruhigte mich: Die Preise, die ich bezahlt habe, waren für ihn zwar das Maximum, aber weniger ist für einen augenscheinlichen Ausländer wie mich wohl kaum drin. Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen stolz war. Erst recht, als ich dann das Statesman House gefunden hatte. Jetzt musste ich nur noch den Buchladen sehen! Ich ging zu einer Einfahrt für Autos und befragte die Wachmänner. Leider sprechen die oftmals kaum ein Wort Englisch, zu meinem Leidwesen verstand ich sie aber doch: Der Oxford Bookstore existiert nicht mehr, offenbar ist er seit einem Jahr geschlossen. Letztlich ging ich zu einem der vielen Straßenstände, an denen Bücher verkauft werden und erwarb einen Grisham-Roman zum Festpreis von fünf Euro. An einem anderen Stand hatte ich das Buch mit dem Titel „Mein Kampf“ dann doch links liegen gelassen.
 Aber die deutsche Vergangenheit ist den Indern eh schwer vermittelbar, wie wir bei einem Gespräch am Ufer des Sikh-Tempel-Sees feststellen mussten. Am Ende haben wir unserem Gesprächspartner dann hoffentlich erklären können, warum wir nicht stolz auf Adolf Hitler sind, obwohl er doch angeblich so viel Gutes für Deutschland wollte. Als Deutscher im Ausland hat man leider auch im 21. Jahrhundert noch eine Sonderrolle inne…

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