Freitag, 26. Oktober 2012

Der Teufel ist vertrieben – die Korruption bleibt

Verfrühtes Silvester in Delhi? Wer nicht wusste, dass der 24. Oktober in Indien ein Feiertag war, mag sich wie im falschen Film vorgekommen sein. Brände und Explosionen an fast jeder Straßenecke sorgten für einen beinahe beängstigenden Lärm in den Gassen der Stadt. Und ich war mittendrin, was neben meinen Ohren auch meine Kamera kurzzeitig zu spüren bekam. Zum Glück sind die lila Streifen auf dem Display inzwischen wieder verschwunden. Zusammen mit drei „Community-Boys“, wie die älteren Schüler, die zum Englisch lernen in die Schule kommen genannt werden, habe ich „Dussehra“ gefeiert, das jährliche Highlight für jeden Hindu. Joey ist leider krankheitsbedingt kurzfristig ausgefallen.

Mit der für Indien typischen chronischen Verspätung holte mich Rahul von der Metrostation ab. Bereits auf dem Weg zu ihm nach Hause konnte ich riesige, farbige Statuen bestaunen, die alle den Teufel Rama darstellen. Vor zwei Monaten haben viele Inder begonnen, an diesen Kunstwerken herumzubasteln, damit sie pünktlich zum Fest fertig sind. Auf den Straßen war es deshalb angenehm leer, dafür herrschte in den Gassen reges Treiben. Bevor ich jedoch das jährlich wiederkehrende Ritual bestaunen durfte, stellte mich Rahul stolz seiner Familie vor. Zu fünft wohnt der 33-jährige mit zwei Geschwistern und seinen Eltern in einer kleinen Wohnung, in der es zwei Betten gibt. Zwar ist alles sehr beengt, dafür aber aufgeräumt und sauber. Nebenan wohnen weitere Brüder mit ihren Frauen, die teilweise schon Kinder haben. Ein Baby sollte ich dann für’s Fotoshooting auf dem Arm halten. Eigentlich ein Akt von wenigen Sekunden, aber die Kleine war offenbar trotzdem nicht begeistert von dieser Aktion, weshalb sie mich kurzerhand als Toilette benutzte.

Danach wurde ich noch Pradeeps Familie vorgestellt, die in einem leerstehenden Gebäude mit vier Personen ein Zimmer bewohnt. Anscheinend teilt sie sich Küche und Waschmöglichkeiten mit den anderen Hausbewohnern. Tee gab es – wie übrigens das abschließende Abendbrot – nur für mich: eine wirklich unangenehme Situation. Mir blieb aber nichts anderes übrig, als beides dankend anzunehmen, um den Stolz der Familien nicht zu verletzen.

Es war gegen 19 Uhr, als wir uns auf den Weg machten, das „Dussehra“-Festival anzuschauen. Um den Teufel Rama zu vertreiben, werden nach und nach die gebastelten Statuen angezündet. Das explodierende Feuerwerk bietet ein imposantes Schauspiel, dem auf den Straßen die Massen beiwohnen. Leider gibt es das nächste „Dussehra“ erst in einem Jahr. Aber Silvester feiern die Inder entgegen anders lautenden Informationen auch…

Und egal, wie wenig Geld sie haben, für laute Feuerwerkskörper scheint immer Geld da zu sein. Auf dem Weg zur Schule am Donnerstagmorgen knallte es jedenfalls noch an so mancher Ecke. Dort hatte ich an diesem Tag mal wieder mehr zu tun, es hängt halt immer davon ab, wie viele Schüler da sind. Aufgrund der offiziellen Schulferien diese Woche (die Kalakar Vikas School hat immer offen!) war oft nur eine Handvoll in den Klassen. In einer Nachmittagsklasse waren auch nur elf Mädchen, weshalb ich kurzerhand den kompletten Unterricht dort übernehmen sollte. Aus elf wurden aus mir bislang unerklärlichen Gründen binnen weniger Minuten 19 Schülerinnen, die einen geregelten Unterricht praktisch unmöglich machten.
Doch nicht nur die Bildung ist zumindest im Slum ein Problem. Viel zitiert ist auch die angebliche Korruption im Land. Wir haben sie uns erstmals zunutze gemacht. Samstagnacht auf dem Heimweg saßen wir mit sieben Freiwilligen im Auto eines irakischen Übersetzers. Prompt wurden wir an einer Polizeikontrolle aus dem Verkehr gezogen, was tagsüber eher unüblich ist. Für nicht einmal drei Euro Schmiergeld durften wir allerdings weiterfahren. Indiens Premier – so wurde mir überliefert - hat zu diesem Thema vor kurzem gesagt: „Das ständige Gerede über Korruption verbreitet eine schlechte Stimmung im Land.“ Dann höre ich lieber auf, über dieses teuflische Thema zu schreiben, um das Problem nicht noch zu verschärfen.
Ein paar Fotos sind sogar gelungen! Auf dem einen seht ihr meine drei indischen Freunde, auf den anderen (brennende) Statuen.








Mittwoch, 24. Oktober 2012



Erste Schritte auf dem Cricket-Field

Joey und ich beim Volkssport der Inder. Wer der talentiertere Cricket-Spieler ist, war noch nicht zu erkennen. Wir haben uns beide ziemlich talentfrei den umstehenden Schülern präsentiert.
Ich werde allerdings noch versuchen, Joey davon zu überzeugen, dass er Sportfotograf werden sollte!



Reise in die Zeit der Mogulherrschaft

 Am Samstag habe ich mir das Red Fort angeschaut, eine Festungs- und Palastanlage aus der Zeit des Mogulreiches  (1504-1858). Delhi lag neben Lahore und Agra im Zentrum des Reiches, das in seiner Blütezeit sogar Afghanistan umfasste. Weitere Überbleibsel aus dieser Zeit sind u.a. das Taj Mahal in Agra, ein riesiger Palast, den ich mir auch noch anschauen werde.
Die Mogularchitektur ist beeindruckend: Im Red Fort gibt es neben den Bauten gibt es auch einen riesigen Garten, der von einem Kanalsystem durchzogen wird.

 
Das Red Fort von vorne, die rote Festungsmauer ist Namensgeber der Anlage.
 
 
Links die Palastmoschee, rechts die private Audienzhalle des Kaisers.
 
 
Die Audienzhalle von innen.
 
 
Das Gotteshaus aus einer anderen Perspektive.
 
 
Ein Blick auf einen Teil des Gartens.
 
 
Überall wo es grün und halbwegs ruhig ist, flitzen die Streichenhörnchen durch das Gras.

Dienstag, 16. Oktober 2012

Mehr als nur ein Feuerwehrmann?

Erst wenn man Sport macht, merkt man eigentlich, wie gut er dem Körper tut. Zwei Monate lang bin ich problemlos ohne Sport ausgekommen. Doch heute, nach zwei Trainings-Einheiten Laufen, fühle ich mich gleich viel besser. Nachdem ich gestern den naheliegenden Park unsicher gemacht habe, bin ich heute mit der Metro 15 Minuten zu einem Sportkomplex gefahren. Als „Inder“ zahlt man 56 Rupien Eintritt (70 Rupien entsprechen 1 Euro). Da ich für ein Jahr registriert bin, zähle sogar ich als „Inder“. Innerhalb des Komplexes kann man etliche Spielfelder nutzen für verschiedenste Sportarten. Sogar Fußball wird gespielt, allerdings als Einstiegskurs, für den ich mich dann doch nicht anmelden wollte. Deshalb nutzte ich den 800-Meter langen Joggingtrack, auf dem ich mit Biegen und Brechen 10 Runden in 40 Minuten absolvierte. Für den zweiten Trainingstag war ich mehr als zufrieden.

Nebenbei verschafft mir das Laufen die nötige Entspannung vom stressigen Schulalltag. Vormittags und teilweise auch nachmittags hole ich Schüler aus dem regulären Unterricht, um sie zu unterrichten. Als Obergrenze wurden zehn Schüler festgelegt. Und zehn – das sind mehr als genug. Selbst mit den älteren Schülern (etwa 12 bis 14 Jahre alt) ist die Kommunikation schwierig. Immerhin haben sie schon ansatzweise Benehmen, weshalb der Unterricht meistens halbwegs durchführbar ist. Durchführbar, aber längst nicht problemfrei. Die Klasseneinteilung folgt keinem klaren Muster. Lediglich ansatzweise ist eine Einteilung nach dem Alter zu erkennen. Somit finden sich in quasi jeder Klasse unterschiedlich leistungsstarke Schüler. Das gibt es in der Tat auch in Deutschland – doch längst nicht in so krasser Form: Bei mir im Förderunterricht sitzen Analphabeten neben guten Schülern. Da bleibt automatisch jemand auf der Strecke, leider muss ich mich aus naheliegenden Gründen der Mehrheit anpassen. Die anderen Schüler malen dann meine Buchstaben oder Zahlen ab, wie sie es auch im Regelunterricht tun. Entweder lernen die Schüler dort stumpf englische Vokabeln auswendig oder – noch besser – geographische Daten Großbritanniens. Als Kommentar genügt ein Zitat einer meiner Kolleginnen: „Sie wissen nicht einmal, wo Indien liegt, und lernen Daten über Großbritannien.“ Vielleicht kann unsere Arbeit tatsächlich einen Sinn haben; wir sind auch schon dabei, uns etwas Hindi anzueignen.

Die 6- bis maximal 9-jährigen Schüler verstehen mich trotzdem nicht. Der Horror hat einen Namen: Sarvjeet’s Class. In unserer Beobachtungszeit unsere Lieblingsklasse, weil die Schüler niedlich waren, endete die erste Stunde mit ihnen am letzten Dienstag beinahe im Worst-Case-Szenario. In der Bibliothek wollte ich mit ihnen schön nach deutscher Tradition Namensschilder basteln. Die Sache hatte mehrere Haken. Nach 20 Minuten saß die wilde Horde erstmals für ca. zehn Sekunden. Vorher war sie auf die Schränke geklettert und hatte Bücher und Spiele herausgerissen. Kann man das nicht verhindern? Nein, kann man nicht, wenn gleichzeitig eine Massenprügelei angezettelt wird, aus der ein heulender Nikhil (ein süßer, quirliger Bengel) hervorgeht, der mit aller Macht aus der Klasse stürmt. Bis er wieder kam, war er mein zweiter Abgang; den ersten hatte ich nach etwas zwei Minuten zu verzeichnen. Er verschwand irgendwo im Slum oder auf dem Schulhof. Hinzu kam, dass jeder, der nach draußen ging, mindestens zwei weitere Schüler mit sich zog, die ich wieder einfangen musste. Ich hatte im Stile eines Feuerwehrmannes mehrere Brandherde gleichzeitig zu löschen, die kurz danach wieder aufflammten. Nach einer halben Stunde gab ich mich geschlagen und ließ die Jungs Lego und andere Dinge spielen. So hatte ich wenigstens relative Ruhe und konnte mit zweien vorsichtig Ball spielen. Das brach ich erst ab, als einer den Ventilator anschoss. Der Knall ist mir noch heute in den Ohren. Genauso erinnere ich mich an die Angst, dass eine Lehrkraft hineinkommt und das Spektakel live sieht. Ich glaube nicht, dass alle mich nur ausgelacht hätten wie Joey. Die Lehrerin selber kam exakt am Ende meines zehnminütigen Aufräumens in die Bibliothek. Ich atmete auf. Als Konsequenz bekommen wir jetzt nur noch etwa fünf Schüler, die wir zumindest davon abhalten können, Schaden anzurichten. Djaskan, einer der wenigen lieben Jungs, der mir letztens ein Abschiedsküsschen auf die Wange gegeben hat, ist nicht dabei. Kein Wunder, den würde ich auch nicht aus meinem Unterricht schicken. Von den fünf Jungs, die ich heute hatten, haben drei halbwegs mitgemacht, während ich einen schnell in die Klasse zurückgeschickt habe. Der fünfte machte keine Anstalten, dass Alphabet mit Bildern zu lernen, sondern nervte mich mit seinem „Belly, Belly“-Gesang. Belly? Das bin ich. Ich konnte ihm nicht mal meinen Namen beibringen!

Die geläufigere Anrede im Unterricht ist allerdings „Sir dschi“ – „dschi“ als besondere Höflichkeitsform. Dabei ist mir ein wenig Respekt und Benehmen vonseiten der Schüler doch  viel wichtiger als diese ehrenhafte Anrede!

Abgesehen vom Schreckgespenst „Sarvjeet’s Class“ bekomme ich dennoch langsam eine Idee, wie ich das Jahr sinnvoll nutzen kann. Vor allem mit den älteren Jungs, die nachmittags kommen, ist guter Unterricht möglich. Neben Englisch bringe ich ihnen auch Gitarre bei, mache eventuell mit ihnen Sport und werde vielleicht das ein oder andere Projekt starten. Wenn alles nach Plan läuft, könnt ihr daran sogar etwas teilhaben.

Den jüngeren Schülern sollen wir „Living Values“ beibringen, wurde uns gesagt. Die  „Living Values“ wie „Peace“ und „Respect“ sind in einem wirklich guten Buch zusammengefasst. Schön in der Theorie. Aber wie soll ich in der Praxis über solche Wert sprechen, mit Schülern, die vielleicht gerade ihren Namen schreiben können?

Wie ihr seht, liegt einiges im Argen. Und auch wenn wir das Mauerproblem nicht lösen können, wie ihr im korrigierten letzten Blogeintrag lest, haben wir genügend andere Baustellen zu bearbeiten. Wir selber sind es, die unserer Arbeit einen Nutzen geben müssen. Mein Wunsch ist, dass man sich auch nach meinem Aufenthalt noch an „Benny Sir“ erinnern wird – und ich mehr bin als nur ein Feuerwehrmann!
!!!ACHTUNG!!! Der letzte Blogeintrag wurde korrigiert!

Wie wir heute erfahren haben, ist das Problem mit der Mauer von uns nicht zu lösen. Joey und ich waren vorschnell in der Annahme, wir könnten das Loch schließen. Aufgrund von Bauarbeiten wurde es eingerissen und es soll auch wieder von offizieller Stelle geschlossen werden. In Indien kann das leider etwas dauern.

Spenden sind dennoch immer willkommen, es fehlt nämlich an Vielem. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Tafeln sind teilweise zerkratzt, sodass einige Stellen kaum noch zu beschreiben sind. Zudem fehlt es an (sinnvollem) Unterrichtsmaterial. Joey und ich greifen manchmal auch in die eigene Tasche, etwa um Stifte oder einen Fußball zu kaufen – aber das machen wir gerne und es handelt sich hierbei um niedrige Kosten!

Samstag, 13. Oktober 2012

Schlechte Voraussetzungen erschweren Unterricht

Die Kalakar Vikas School, in der ich zusammen mit Joey meinen Freiwilligendienst absolviere, existiert seit rund 19 Jahren. Leider ist seit dem Bau wenig bis gar nichts renoviert worden, entsprechend baufällig sind Teile der Gebäude. Außerdem fehlt es an Unterrichtsmaterialien, was den Unterricht mit den an sich schon schwierigen Schülern weiter erschwert (mehr dazu im nächsten längeren Blogeintrag). Das größte Problem ist aber ein Loch in der Mauer im hinteren Bereich des Schulhofes. Eigentlich hat das Schulgelände nur einen Eingang im Frontbereich. Hinten ist eine relativ große, eingemauerte Fläche aus Steinen, die für Sport und andere Freizeitaktivitäten theoretisch gut nutzbar wäre. Weil aber die Mauer eingerissen ist, dringen Kinder von außerhalb in die Schule ein. Sie zu vertreiben ist praktisch unmöglich. Allerding stören sie in erheblichem Maße die Konzentration der Schüler, die eh schon auf dem denkbar niedrigsten Level ist. Das hohe Kampf- und Streitpotenzial wird weiter gesteigert. Leider müssen wir warten, bis das Bauunternehme, das das Loch aufgrund von Arbeiten eingerissen hat, dieses wieder schließt. Das kann in Indien erfahrungsgemäß etwas dauern. Auch wenn wir dieses Problem nicht lösen können, wäre finanzielle Unterstützung notwendig. Mein Projektpartner Joey und ich und Kalakar Trust würden sich über Spenden freuen. Vielleicht hat ja auch jemand eine originelle Idee, in Deutschland Spenden zu sammeln oder die Organisation in anderer Weise zu unterstützen. Den Kindern aus dem Slum, die sowieso schon unter den denkbar schwersten Bedingungen aufwachsen, wäre damit extrem geholfen. Joey und ich und sicherstellen, dass das Geld sinnvoll eingesetzt wird. Es gibt etliche Baustellen, für die es gut angelegt wäre. Wer Interesse oder eine gute Idee hat, kann sich gerne via Facebook oder per E-Mail (benjaminscholz94@gmail.com) bei mir melden. Wir freuen uns über jeden Kontakt! Im nächsten Blogeintrag schildere ich auch konkret den problematischen Unterricht mit den Kindern.
Hier könnt ihr einen Eindruck von unseren Zöglingen gewinnen. Joey (grünes T-Shirt) und ich haben schon unseren Spaß, wie ihr im nächsten längeren Blog erfahren werdet. Rahul im roten T-Shirt sieht auf den Fotos ganz brav aus, war aber in seiner Klasse der größte Chaot und Prügelknabe!







Natürlich ist Delhi laut, staubig und anstrengend. Aber es gibt auch wirklich schöne, ruhige Ecken. Eine ist der Lodhi Garden, in dem Joey und ich am 2. Oktober waren. Während die Inder Gandhis Geburtstag feierten, habe ich mich von meiner Krankheit erholt. Wer könnte das nicht in so einem schönen Park?








Montag, 8. Oktober 2012


Nach der Besinnung die Odyssee


Erst die Arbeit, dann das Vergnügen! Ein Freiwilligendienst in New Delhi bedeutet neben Arbeit auch eine Menge Freizeit. Anders als im Vertrag festgelegt, muss ich nur sechs Stunden am Tag in der Schule verbringen, inklusive einer halbstündigen Mittagspause. Da bleibt nach Dienstschluss um 16 Uhr noch jede Menge Zeit, die ich jedoch selten so gut nutze wie am Donnerstag. Während ich am Wochenende gerne meiner Rolle gerecht werde und ein bisschen Tourist spiele, stand dieses Mal in der Woche das Eintauchen in die Sikh-Kultur auf dem Programm. Lucas, ein anderer Freiwilliger aus Delhi, hatte Joey und mir vorgeschlagen, doch einmal mit ihm in den Sikh-Tempel zu gehen. Eine super Idee! Nur die langen Fahrten in der zwar klimatisierten, aber chronisch überfüllten Metro rauben mir meistens den letzten Nerv. Da kam die Besinnung im Tempel gerade recht.
Zugegeben, ich habe mich noch nicht umfassend über die Sikhs informiert. Ein freundlicher Mann hat uns allerdings im Gespräch vor dem Tempel einen Crash-Kurs in seiner Religion gegeben. Äußerlich sind die männlichen Sikhs nicht zu übersehen: Sie tragen einen Turban, unter dem sie ihre Haare verbergen, die sie – streng genommen – ihr Leben lang nicht schneiden dürfen. Gleiches gilt für die Barthaare, weshalb erwachsene Sikhs mit einem Vollbart herumlaufen. Die Sikhs gehören traditionell zur Mittel- bis Oberschicht. Sie sind stark im Handel vertreten und bekleiden in der Regel wichtige Positionen. So ist zum Beispiel auch der indische Premierminister Singh ein Sikh. Inhaltlich fasse ich die Religion (teilweise Wikipedia) kurz zusammen, so gut ich es eben weiß: Hauptbestandteil des Sikhismus ist die Meditation. Darüber hinaus sehen sich die Sikhs als Beschützer der Armen, was sich im später beschriebenen Verhalten gegenüber den sozial Schwachen der Gesellschaft ausdrückt. Sie glauben an eine Kraft, die als ein Gott angesehen werden kann. Dieser ist weder männlich oder weiblich. Überhaupt ist die Emanzipation der Frau weit fortgeschritten und dem „sozial ausgerichteten Familienleben“ (Wikipedia) wird eine große Bedeutung beigemessen.  Im Sikh-Tempel ist jeder willkommen, egal welcher Religion er angehört. Bei unserem Besuch verhielten wir uns nach bestem Wissen: Zunächst zogen wir die Schuhe aus und wuschen uns Hände und Füße. Vor dem Betreten des Tempels knieten wir nieder und berührten den Boden. Drinnen angekommen, setzten wir uns im Schneidersitz auf den Teppichboden und meditierten oder beteten. Es herrscht absolute Ruhe im Sikh-Tempel, jeder lauscht den Klängen der Musik und des Gesangs der Priester, die jeden Tag eine zufällig aufgeschlagene Seite aus der heiligen Schrift vorlesen. Beim Verlassen des Tempels bekommt jeder Besucher eine kleine Süßspeise und etwas Wasser mit auf den Weg. Nun bleibt noch Zeit, um den künstlich angelegten See zu spazieren oder eine kostenlose Mahlzeit in der Gemeinschaftsküche einzunehmen. Freiwillige Helfer bereiten hier Essen zu, dass jeder, unabhängig vom Einkommen und sozialem Status, bekommt. In der Sikh-Religion gibt es nämlich kein Kastenwesen. Die Beschützer der Armen bieten in ihren Tempeln auch Obdachlosen die Möglichkeit, unter einem Dach im Freien zu schlafen. Irgendwie muss ich unserem „Lehrer“, der uns die Religion näher brachte, zustimmen, als er sagt, dass alle Religionen von Nächstenliebe sprächen, die Sikhs sie aber praktizierten. Ich habe selten eine so friedliebende und Fremden offenstehende Religion kennengelernt. Nachdem ich die Sikhs vorher aus Unwissen immer in eine Schublade mit Muslimen gesteckt habe – Assoziation: bärtiger Mann mit Turban – habe ich nun ein differenziertes Bild von ihnen. Und die Moral dieser Geschicht‘, verpasse deine Chancen nicht. Jetzt steht demnächst mal der Besuch eines Hindu-Tempels an. Und irgendwann innerhalb dieses Jahres werde ich auch noch die sechs Stunden Zugfahrt nach Amritsar an der pakistanischen Grenze auf mich nehmen, um den größten Sikh-Tempel der Welt zu sehen.

Das war also der kulturelle Teil meiner Freizeit. Am Samstag folgte dann der touristische. Allein war ich auf dem Connaught Place unterwegs, Delhis touristischem Herz. Joey war mit anderen Freiwilligen und zwei reichen Indern, die seit längerem schon mit den deutschen Freiwilligen befreundet sind, losgegangen. Ich befolgte dagegen den Rat der Ärzte und ließ es ruhiger angehen. Schließlich will ich nicht riskieren, bald wieder krank im Bett zu liegen. Ich fühle mich von Tag zu Tag weniger schwach und hoffe deshalb auf das nächste Wochenende.
Was wollte ich überhaupt am Connaught Place, zu dem ich mit der Metro immerhin auch eine halbe Stunde brauche? Im „Lonely Planet“, meinem Reiseführer, wurde der „Oxford Bookstore“, ein riesiger Buchladen im Untergeschoss des „Statesman House“ empfohlen. Um meine Odyssee über den riesigen Platz nachvollziehen zu können, sei kurz etwas zu seinem Aufbau gesagt. Der Connaught Place ist kreisförmig, es gibt einen inneren und äußeren Kreis. Mein Plan, mich bis zum Block G, in dem das Statesman House liegt, durchzufragen, war eine Schnapsidee. Ich werde wohl nie aus dem Mund eines Inders die Antwort „Ich weiß es nicht!“ hören. Wenn man zehn Inder nach einem Weg fragt, wird man im schlimmsten Fall zehn verschiedene Antworten hören. Einer erzählte mir, der Buchladen habe heute schon zu, auch wenn der Reiseführer etwas anderes erzählte. Ich vertraute dem „Lonely Planet“… Während meiner Suche lernte ich so einige Inder kennen. Einen sehr geschäftigen Rikscha-Fahrer musste ich abweisen, was ihn nicht daran hinderte, mich in eines der vielen Standard-Gespräche zu verwickeln. Stets muss ich dann beantworten, wo ich herkomme, was ich in Delhi mache und wie lange ich hier bleibe. Jetzt sind die Inder am Zug, und es ist verblüffend, wie viele angeblich schon einmal in Deutschland waren oder irgendwelche Verbindungen dorthin haben. Nach meiner Rückkehr werde ich beantragen, Hamburg in „New New Delhi“ umzubenennen, so viele Inder wie dort leben müssen.  Zwei Geschäftsleute, die mich auf typisch indische Art einfach so ansprachen, haben dort beispielsweise auch einen Bekannten. Andere versuchten nur Geschäfte zu machen. Ein Rikscha-Fahrer versuchte mir weis zu machen, dass ich unbedingt am Samstag noch mit ihm fahren müsse: „Heute sehr billig, morgen sehr teuer!“ Ich verstand die Logik dahinter nicht, und er wohl nicht, dass ich gar nicht woanders hin wollte. Zufälligerweise kam ich über einen Basar, auf dem ich mir eine leichte Hose und ein Hemd kaufen wollte. Warum sind die Verkäufer bloß bei mir alle so geschäftig? Und warum sind die aufgerufenen Preise nur so hoch? Letztendlich bezahlte ich für beides zusammen an zwei verschiedenen Ständen 500 Rupien, umgerechnet rund sieben Euro. Bei der Hose holte ich mir den Rat eines vertrauenswürdigen Inders ein, der sagte, er würde 300 Rupien dafür bezahlen. Ich war zwar immer noch unsicher, ob ich nicht über‘s Ohr gehauen wurde, doch Gagan beruhigte mich: Die Preise, die ich bezahlt habe, waren für ihn zwar das Maximum, aber weniger ist für einen augenscheinlichen Ausländer wie mich wohl kaum drin. Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen stolz war. Erst recht, als ich dann das Statesman House gefunden hatte. Jetzt musste ich nur noch den Buchladen sehen! Ich ging zu einer Einfahrt für Autos und befragte die Wachmänner. Leider sprechen die oftmals kaum ein Wort Englisch, zu meinem Leidwesen verstand ich sie aber doch: Der Oxford Bookstore existiert nicht mehr, offenbar ist er seit einem Jahr geschlossen. Letztlich ging ich zu einem der vielen Straßenstände, an denen Bücher verkauft werden und erwarb einen Grisham-Roman zum Festpreis von fünf Euro. An einem anderen Stand hatte ich das Buch mit dem Titel „Mein Kampf“ dann doch links liegen gelassen.
 Aber die deutsche Vergangenheit ist den Indern eh schwer vermittelbar, wie wir bei einem Gespräch am Ufer des Sikh-Tempel-Sees feststellen mussten. Am Ende haben wir unserem Gesprächspartner dann hoffentlich erklären können, warum wir nicht stolz auf Adolf Hitler sind, obwohl er doch angeblich so viel Gutes für Deutschland wollte. Als Deutscher im Ausland hat man leider auch im 21. Jahrhundert noch eine Sonderrolle inne…

Sonntag, 7. Oktober 2012

Montag, 1. Oktober 2012


Ärzte-Aufmarsch für Benny-Sir!


Es ist an der Zeit, von meiner Arbeit zu berichten. Dabei ist nur ein kleiner Haken an der Sache: Ich habe von meinem Projekt noch nicht allzu viel gesehen. Um genau zu sein, die ganze letzte Woche rein gar nichts. Insgesamt habe ich bis jetzt drei Tage lang gearbeitet, ehe mir das Dengue-Fieber einen Strich durch die Rechnung machte. Doch der Reihe nach…

Die Kalakar Vikas School, in der ich das nächste Jahr über Freizeitaktivitäten und Unterricht für die Schülerinnen und Schüler gestalten soll, ist eine nicht-staatliche Schule. Die Schüler kommen freiwillig dorthin und können bleiben, solange sie wollen. Morgens erhalten die Jungen ein wenig Unterricht, während die Mädchen staatliche Schulen besuchen. Nachmittags verhält es sich genau anders herum, wobei sich auch einige männliche Gäste unter die Frauen – und Joey und mich – mischen.

Ich muss mir immer wieder vor Augen halten, aus welch schwierigen Verhältnissen die Kinder stammen. Sie wachsen inmitten von Dreck, Lärm und Gewalt auf. Das mindert keinesfalls ihre Begeisterungsfähigkeit und ihren Lerneifer. Obwohl der Unterricht meiner Kolleginnen meiner Meinung nach todlangweilig ist, folgen sie ihm mehr oder weniger bereitwillig – vorausgesetzt, es betritt nicht gerade ein interessanter, hellhäutiger Freiwilliger aus Cloppenburg den Raum. Der wird nämlich sofort belagert und nach seinem Namen gefragt. Das Problem: Die Kinder im Grundschulalter können kaum Englisch, ihre Kenntnisse beschränken sich meistens auf ein einfaches „My name is…“. Um nun also meinen Namen zu erfahren, zeigen sie ganz einfach auf mich und sagen diesen Standard-Satz. Die Kurzform „Benny“ reicht absolut aus, um ihren Zungen einige ungewöhnliche Varianten zu entlocken. Doch ich will mich nicht beschweren, Joey hat es da viel schwerer. So bin ich jetzt also „Benny Sir“. Und „Benny Sir“ oder sein deutscher Kollege werden immer gerufen, sobald sich zwei Schüler prügeln, was am Vormittag relativ häufig vorkommt. Es ist schon fast Alltag, so wie die Gewalt im Slum an sich. Die Lehrerinnen haben längst resigniert, scheint es, jedenfalls winken sie nur müde ab. Einmal konnte Joey gerade so verhindern, dass ein Schüler mit einem Stein auf den anderen losging. Aber in der Regel laufen die Prügeleien dann doch eher harmlos ab. Die Kinder haben ja eigentlich auch ganz andere Talente: Sie sind die Nachkömmlinge traditioneller Künstler aus Rajasthan, einem Bundesstaat in der Nähe von Delhi. Deshalb bietet die Schule auch jede Menge künstlerische Aktivitäten an, vom Musizieren über den traditionellen Tanz hin zum Puppenspiel. Beim „Face Painting“, dem Gesichter-Anmalen, habe ich mich gleich als künstlerische Niete entpuppt.

Besser also, dass ich mich voraussichtlich eher auf sportliche und sprachliche Schwerpunkte konzentrieren werde und weniger auf die malende Kunst. Was genau ich machen werde, muss ich erst noch mit der Schulleitung besprechen.

Zeit habe ich ja jetzt: Seit Freitag vor einer Woche (21.9.) bin ich offiziell in Indien registriert, d. h. ich darf für ein Jahr hier bleiben. Hinter mir lag an diesem Tag  allerdings ein nervenaufreibender Marathon durch die indische Bürokratie. Einzelheiten erspare ich euch, genauso wie von meiner Krankheit. Die setzte am Abend ein, pünktlich nach einer Woche Delhi hatte ich über 39 Grad Fieber am Samstagmorgen. Um es kurz zu halten: Ich ging zum Arzt und der sollte mir in den nächsten Tagen immer wieder haufenweise Tabletten mitgeben. Irgendwann habe ich es dann gelassen, drei Paracetamol-Tabletten am Tag zu schlucken. Das Fieber ließ mir nichts anderes übrig, als die Tage im komatösen Zustand im Bett zu verbringen. Am Donnerstag war es dann plötzlich weg. Dafür kam etwas anderes: ein „feinfleckiger Ausschlag“, wie es im Internet heißt, typisch für Dengue-Fieber. Sahil, unser Mitbewohner, war bereits mit dieser für mich neuen Krankheit ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ich beriet mich mit meinem zweiten Ich Joey und kam zu dem Schluss, am Freitag besser zum Arzt zu gehen – dieses Mal aber zu einem mit Kompetenz! Unsere Koordinatorin und Ansprechpartnerin in Delhi, Rita Roy, empfahl mir ein Krankenhaus, in das in ernsteren Fällen alle Freiwilligen gingen. Ein Glücksfall für mich!

Das Krankenhaus war extrem auf westliche Bedürfnisse angepasst, sodass es mir gar nicht so viel ausmachte, dass ich drei Nächte dort verbringen musste. Ich fühlte mich allerdings schon ziemlich gesund, das war der einzige Haken an der Sache. So wurden die Tage ziemlich lang, zumal ich am Fernsehapparat nichts verstellen konnte. Resultat: Wenn ich fernsah, dann sah ich den Sender „Movies Now“. Englischsprachige Filme – immerhin kein Bollywood, und „Harry Potter“ war auch dabei! Na also, so ließ es sich doch leben. Dazu typisch westliches Essen mit einem Frühstücksei! Ich kam mir vor wie im siebten Himmel! Ich mag das indische Essen wirklich sehr, aber in dieser Situation war ich doch dankbar für ein Stückchen „Heimat“. Das vermittelte mir auch das Badezimmer, im Vergleich zu dem Verschlag bei uns zu Hause ein „Fünf-Sterne-WC“.

Viel mehr gibt es vom Wochenende im Krankenhaus auch nicht zu berichten. Da war noch der Aufmarsch der Ärzte, dem ich ganze drei Mal beiwohnen durfte. Immer am frühen Nachmittag – mit Ausnahme des Sonntags – klopfte es an der Tür. Der Chefarzt kam rein, um mit mir Rücksprache zu halten bezüglich meines Gesundheitszustandes. Nicht der Rede wert, auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick kamen nämlich bis zu fünf weitere Personen ins Krankenzimmer. Zwei weitere Ärzte und Pflegepersonal. Letztendlich sprach ich maximal fünf Minuten mit dem Chefarzt, bevor die schweigsame Kolonne wieder auszog. 2500 Rupien nahm der Chefarzt übrigens pro Besuch, das entspricht etwa 40 Euro. Woher ich das weiß? Gleich zu Beginn meines „Kurzurlaubs“ bekam ich eine Preisliste ausgehändigt, was mich veranlasste, sofort mit meiner Versicherung in Kontakt zu treten. Die musste am Montagnachmittag erst die Zahlung in die Wege leiten, ehe ich gehen durfte. Das hat mich mindestens zwei weitere Stunden im Krankenhaus gekostet. So ticken sie halt, die Uhren der indischen Bürokratie!