Irgendwie anders – und doch schon gewohnt
Gestern vor genau zwei Monaten
ging am Abend mein Flieger von Düsseldorf nach Dubai, am nächsten Tag dann der
Anschlussflug nach Delhi. Ich begab mich auf eine weite Reise. Weit nicht nur
wegen der Entfernung zwischen Deutschland und Indien, weit vor allem angesichts
der kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Ich wechselte die Welten –
und musste mich zunächst einmal an die Umstellung gewöhnen. Die erste Woche war
verwirrend. Ich war unsicher, ob ich es hier ein Jahr lang aushalten würde.
Dabei war Indien in vielerlei Hinsicht wie angekündigt. Trotzdem: Von Bettlern
angefasst zu werden und die Slums in der Realität zu sehen, ist etwas anderes,
als im Fernsehen eine Dokumentation über die Dritte Welt zu schauen. Ich habe
von den vier Leinwänden im Kino geschrieben, die ich nicht einordnen konnte.
Auch heute weiß ich nicht, ob ich es kann – und ob ich es jemals können werde.
Dennoch habe ich in den rund acht Wochen schon jede Menge nützliche, angenehme
und weniger angenehme Erfahrungen gemacht.
Nudeln auf die indische Art (Essen)
Dem Durchschnittsbürger in
Deutschland müssen ja schon die Tränen kommen, wenn er sich auch nur die
Schärfe des indischen Essen vorstellt. In unserer Gastfamilie bekommen wir zwar
scharfes Essen, das war aber auf unseren Gaumen abgestimmt. Heute ist es kaum
noch scharf – anders als das Essen, das wir außerhalb teilweise essen. Dennoch
ist es gut erträglich und weit entfernt von jeder Horrorgeschichte. Ein
weiteres Schreckgespenst im Vorfeld waren die Straßenstände, die ich unbedingt meiden
sollte. In der Anfangszeit habe ich mich brav daran gehalten, bis ich es
irgendwann dann doch einmal gewagt habe. Inzwischen esse ich häufiger das
sogenannte „Outside food“, ohne bisher echte „stomach problems“ (Magenprobleme
- eine schöne Umschreibung der Inder) bekommen zu haben. Und solange das Essen
heiß ist und (mögliche) Bakterien absterben, ist der nicht so hohe
Hygienestandard problemlos zu verkraften. Psychisch weniger leicht zu ertragen
ist dagegen das indische Frühstück. Nicht vom Geschmack her – das Essen, das
wir in der Gastfamilie bekommen, schmeckt hervorragend. Natürlich ist es schon
manchmal etwas eintönig, jeden Tag daal (eine
Art Linsen- oder Bohnensuppe), Kartoffeln mit Gemüse und roti (das typische indische Brot) zu bekommen, manchmal noch mit
Reis. Weil wir aber am Wochenende auch oft woanders essen, ist das nicht weiter
tragisch. Tragisch – um ein wenig zu übertreiben – ist dagegen das, was uns am
Morgen vorgesetzt wird. Mein Favorit, Omelett auf Toastbrot, bildet die
Ausnahme. In der Regel gibt es mit Kartoffeln gefülltes oder speziell gewürztes
roti. Das ist zwar lecker, aber eben
etwas wenig abwechslungsreich. Zumal es hin und wieder Nudeln oder Reis zum
Frühstück gibt – meistens leicht scharf. Schärfe am Morgen? Ein absolutes No-Go
für mich. Da vermisse ich dann doch ein typisches deutsches Frühstück mit
Brötchen, Müsli und Ei. Im Krankenhaus gab es das in abgespeckter Version –
aber da wollte ich eigentlich nicht noch einmal hin.
Tabletteninflation und „Dreckwasser“ (Krankheit und Hygiene)
Sobald es irgendwo zwickt oder
juckt, wird zur Tablette gegriffen. Unsere Gastfamilie ist im Umgang mit
Medikamenten nicht zimperlich und empfiehlt auch uns bei jeder Kleinigkeit den
Gang zum Arzt. Meine Entzündung am Auge, die vermutlich durch die schmutzige
Luft verursacht wurde, ging auch so nach einer Woche weg. Zumal ich zu dem
Arzt, der mein Dengue-Fieber nicht erkannt hat, aus unerklärlichen Gründen
sowieso kein Vertrauen mehr habe. Es gibt zwar auch den Familiendoktor ganz in
der Nähe, aber wenn es nichts Ernsthaftes ist, meide ich indische Ärzte.
Vielleicht war Dr. Sharma nur ein Negativbeispiel, vielleicht repräsentiert er
aber auch den indischen Durchschnittsarzt. Einem fiebrigen Patienten drei
Paracetamol-Tabletten am Tag zu verschreiben ist in Deutschland mindestens
unüblich.
Zum Glück war ich ja nur einmal
krank bisher. Und das, obwohl ich mit Leistungswasser die Zähne putze.
Angeblich auch sehr gefährlich. Doch als wir gesehen haben, dass der Diener der
Familie die Nudeln nach dem Kochen – warum auch immer - mit Leitungswasser
abschreckt, haben wir unsere anfängliche Übervorsicht aufgegeben. Ohne negative
Konsequenzen! Trinken würde ich ungefiltertes Leitungswasser deswegen trotzdem
nicht.
Zwischen extrem billig und normal teuer (Preise)
100 Euro Taschengeld bekomme ich
von meiner Entsendeorganisation VIA e.V.. Das klingt nach nicht viel Geld. Ist
es auch nicht – in Deutschland. Und in Indien?
Viele Dinge hier sind billiger
als in Deutschland. Wer jedoch glaubt, in Indien gäbe es alles zum
Schnäppchenpreis, der irrt. In den westlichen Malls oder auch guten Restaurants
lassen sich gut und gerne Preise zahlen, die an europäische Verhältnisse
erinnern. Günstig ist dagegen der Einkauf auf Basaren, der allerdings immer mit
nervenaufreibenden Verhandlungen verbunden ist. Einen Baumwollschal für
umgerechnet ca. 1,50 Euro zu bekommen, verlangte mir eine gewisse
Hartnäckigkeit ab. Selten verhandelt werden kann dagegen in kleineren
Privatläden, die sich etwa in unserem Viertel finden. Sie sind oft günstiger
als offizielle Ketten in den Malls. So kostet ein Briefumschlag nur eine Rupie,
das entspricht nicht einmal zwei Cent. Auch andere Dienstleistungen sind extrem
günstig. Für Autorikschas bezahlt man für eine Strecke von zwei bis drei
Kilometern nicht einmal fünfzig Cent – wobei der Preis immer auch von der
Tageszeit und vom Verhandlungsgeschick abhängt. Einen Brief nach Deutschland
gibt es sogar fast gratis, wenn man so will: Rund 30 Cent werden fällig – für
so wenig Geld kann man nicht einmal einen innerdeutschen Brief versenden. Aus
unserer Sicht lächerlich niedrig sind auch die Preise für Gemüse und Obst an
Straßenständen: Zehn Bananen haben wir zum Beispiel schon für etwas weniger als
50 Cent bekommen.
Europäische Preise zahlen wir
hingegen für Toilettenpapier – kein Wunder, schließlich benutzen es die Inder
nicht. Brauchbare Taschentücher habe ich noch nirgendwo gefunden – ebenso wenig
wie einen Inder, der sich die Nase putzt. Da musste dann doch ein Paket aus
Deutschland aushelfen. Ansonsten lässt es sich in Indien aber mit 100 Euro
monatlich leben. Wer suchet, der findet – und zwar billig!
Only English? (Sprache)
Englisch ist in Indien offiziell
Amtssprache. In der Theorie. In der Praxis ist das zumindest in Delhi eher
nicht der Fall. Natürlich hängt es auch davon ab, in welchen Kreisen man sich
bewegt. Gebildete Inder aus der oberen Mittel- oder der Oberschicht sprechen
selbstverständlich ein gutes Englisch. Darunter wird es teilweise schwieriger.
Bei der Grammatik vieler Inder stehen selbst mir als Deutschem die Haare zu
Berge. Dennoch funktioniert die Verständigung in der Regel: Der Rikschafahrer
kennt meistens die Zahlen und die nötigen Argumente für hohe Preise, der
Verkäufer ebenso. Auch den Weg können einem die meisten auf Englisch erklären.
Das tun sie auch gerne und überspielen dabei gerne ihre Ahnungslosigkeit.
Schwierig wird es nur, wenn es um Zeiten geht. Gagan, unser Gastbruder, ist
dafür das beste Beispiel. Sein Englisch ist nicht gut, aber es reicht
eigentlich aus zur Verständigung. Das einzige Problem: Er benutzt immer das
Zukunftswort „will“ – egal ob er in der Vergangenheit oder im Futur spricht.
Der Grund: In Hindi gibt es ein Wort für „gestern“ und „morgen“ – „kal“.
Das weiß ich in Hindi – viel mehr
aber auch nicht. Einen Hindi-Sprachkurs werde ich nicht mehr machen. Ich bringe
mir das Nötigste selbst bei und werde sehen, wie weit ich innerhalb des Jahres
komme. An sich ist die Sprache nicht schwierig, nur die Aussprache hat es in
sich. Meinen Schülern kann ich hin und wieder schon mit einigen Brocken etwas
vermitteln – und so lerne ich nach und nach, was „Schreib!“, „Setz dich hin!“
oder „Hör zu!“ heißt. Natürlich wäre es schön, wenn ich ihnen noch präzisere
Anweisungen geben könnte. Dass sie die dann oft befolgen, bezweifle ich aber trotzdem.
Freie Tage sind Feiertage (Feiertage)
Dass die Hindus viele Götter
haben, ist hinlänglich bekannt. Dass sie deswegen auch viele Feiertage haben,
dagegen weniger. Allein diese Woche sind es zwei – gestern und morgen. Gestern
gab es Silvester verfrüht, Teil 2. Bei Diwali werden allerdings keine Statuen
verbrannt, sondern nur Böller und Leuchtraketen in die Luft geschossen. Warum
das Fest eigentlich gefeiert wird, konnte mir niemand so richtig erklären –
ganz nach dem Motto: Hauptsache Feiern. Dazu kommen noch islamische und
christliche Feiertage, an denen wir aber nicht unbedingt frei haben. Kein
Problem, die Hindus allein haben ja mehr als genug. Aber trotz ihrer Vielzahl
heißt es für mich immer noch: Freie Tage sind Feiertage!
Wenn gar nichts geht, geht der Schwarzmarkt (Betrüger und Geschäftemacher)
Die Mühlen der indischen
Bürokratie mahlen langsam. Was ich bei der Registrierung schon feststellen
konnte, wiederholte sich am Bahnhof. Hoa, eine Freundin von Joey, die bei uns
auf der Durchreise zu Besuch war, benötigte noch ein Zugticket für den Sonntag.
Drei Stunden Wartezeit waren nötig für den fünfminütigen Kauf. Dabei hätten wir
es auch einfacher haben können. Vorher hatte uns nämlich ein netter Inder ungefragt
angesprochen und zur offiziellen Touristeninformation am Connaught Place
gebracht. Dort hieß es, alle Züge für das Wochenende seien belegt, lediglich
die Klasse CC sei noch verfügbar. Für eine einzelne weibliche Reisende sei die
aber nicht empfehlenswert – ein Schwachsinn, genauso wie die aufgerufenen
Preise. Mich machte es schon stutzig, als der gute Mann behauptete, das
billigste Ticket koste 25 Euro – ja, er redete nur von Euro, nicht von Rupien.
Deswegen legte er uns eine Taxifahrt für 125 Euro nahe. Wir lehnten ab – und
sein Kollege zog einen letzten Trumpf aus der Tasche. Eigentlich gäbe es ja
keine Tickets mehr. Er könnte allerdings für einen etwas höheren Preis welche
auf dem Schwarzmarkt besorgen. Wir lehnten abermals dankend ab, verließen das
seriös anmutende Gebäude und fuhren zum Bahnhof, wo es ein Ticket für rund 7
Euro bei guten Reisebedingungen gab. Müde kamen wir abends zu Hause an und
lasen zufällig wenig später im Reiseführer: „Hilfsbereite Typen, die versuchen,
einen zur ,Touristeninformation‘ am Connaught Place zu lotsen, meiden.“
Auch wenn wir oder ich
gelegentlich noch in Fallen tappen, habe ich mich mittlerweile an die neuen
Umstände gewöhnt. Die freundliche und aufgeschlossene Art vieler Inder macht
Spaß – und ist teilweise sogar berührend. Natürlich gibt es auch solche, deren
Freundlichkeit einen Hintergedanken hat – siehe letzter Abschnitt. Natürlich
werde ich auch oft genug plump angestarrt. Aber dann gibt es Menschen wie den
älteren Herr, der mich in der Metro fragte: „Do you like my country?“ Als ich
die Frage ehrlich bejahte, war er außer sich vor Freude. Er war so glücklich,
dass er mir einen freien Sitzplatz anbot. Ich lehnte ab. Bei aller Höflichkeit:
Er hatte das Sitzen weitaus nötiger als ich.
Es sind nur Eindrücke, die ich
hier schildere. Einige Erkenntnisse werden sich vielleicht mit der Zeit
relativieren oder verändern. Ich werde weitere Erfahrungen machen, die
womöglich den bisherigen grundsätzlich widersprechen. Und auch wenn sie negativ
sind, sind sie gut – denn wegen ihnen bin ich hier.