Was nach einem Jahr Indien bleibt
Ein Monat ist nichts im Vergleich
zu einem Jahr. Seit einem Monat bin ich erst wieder hier in Deutschland – und
doch kommt mir Indien und meine Zeit dort plötzlich so weit weg vor. Nach dem
ersten Kulturschock im heimischen Deutschland habe ich mich aber schnell wieder
an das Leben hier gewöhnt. 18 Jahre meines Lebens haben mich eben doch nicht
unwesentlich geprägt.
Sehr bald hatte ich mich wieder
daran gewöhnt, wie die Menschen hier ticken: Völlig anders als in Indien. Das
eine muss nicht besser als das andere sein, der Unterschied ist aber
frappierend. Um dies festzustellen, musste ich erst zurückkehren, nach meiner
Ankunft in Indien war es mir nicht so offensichtlich geworden. Schnell bin ich
wieder in meine alte Rolle geschlüpft, als einer von vielen.
Die Aufmerksamkeit, die ich als
Weißer in Indien automatisch zuteil bekam, war plötzlich verschwunden. Oft hat
mich das „Besonders-Sein“ genervt, aber es war zur Gewohnheit geworden. Und in
der einen oder anderen Situation habe ich die daraus resultierenden Vorteile
auch gerne ausgenutzt.
Bereits am Flughafen in
Düsseldorf, als ich umringt von Weißen auf mein Gepäck wartete, hatte ich ein
komisches Gefühl. Lediglich die indische Familie neben mir, die auf Hindi sprach,
während sie auf ihren gesamten Hausrat (die Masse des Gepäcks ließ zumindest darauf
schließen) wartete, gab mir ein Stück Heimat zurück. Heimat? Ja, Heimat! Denn
Indien ist über das Jahr hinweg meine zweite Heimat geworden. Im Nachhinein
erinnere ich mich jetzt natürlich weniger an die nervigen Rikscha-Fahrer, die
Hitze und die starrenden Inder, sondern mehr an die gute Küche, tolle
Landschaften und nette und warmherzige Menschen. Das ist das Schöne an
Erinnerungen: Im Rückblick malt man sich Vieles in rosaroten Farben.
Nur den Lärm, den vermisse ich
kaum. In Delhi war es schwer, mal wirklich zur Ruhe zu kommen, in Cloppenburg
ist es nun eher das Gegenteil. Schon auf der Autobahn aus Düsseldorf war es
ungewohnt ruhig – nicht zuletzt, weil die Hupe in Deutschland seltener benutzt
wird. Auf den Straßen – selbst in den sogenannten Großstädten wie Hannover –
ist kaum etwas los. Das ist zunächst natürlich ungewohnt, aber kein Nachteil.
Ich schäme mich auch nicht für
meinen Wohlstand, nur weil ich ein Jahr mit sehr armen Menschen fast täglich
Kontakt hatte und über Facebook immer noch mit ihnen in Kontakt stehe. Genauso,
wie ich in Indien auch öfters von meinem vollen Geldbeutel (im übertragenen
Sinne) Gebrauch gemacht habe. Trotzdem kann ich und können wir von diesen
Menschen meines Erachtens nach lernen. Wenn ich mitbekomme, wie sich Rentner in
einer Mietwohnung in einem Vorort von
Hannover über spielende Kinder oder für ihren Geschmack zu lange hängende
Wäsche ereifern, kann ich nur den Kopf schütteln. In Indien ist es die absolute
Ausnahme, dass eine Familie keine Kinder hat – was zu den bekannten
demographischen Problemen führt. Kinder sind dort in eigentlich jedem Haushalt
zu finden, die Großfamilien wohnen unter einem Dach. Ich will nicht dafür
eintreten, dass das deutsche Bevölkerungswachstum rasant in die Höhe schnellt,
aber wenn Kinder hier wieder „normal“ wären und ungestört spielen können, wäre
uns schon geholfen.
Absurd mutet für mich auch an,
wie sehr manche deutsche Kinder hofiert werden. Die Kinderzimmer platzen vor
den neuesten Spielzeugen und Konsolen, sodass die Kinder kaum noch aus ihnen
heraus kommen. Andererseits gibt es in Cloppenburg in den Neubausiedlungen kaum
noch frei zugängige Bolzplätze. Und wenn man auf der Straße spielt, dauert es
vermutlich nicht lange, ehe sich der Nachbar belästigt fühlt.
In Kathputli Colony, dem Slum, aus dem meine ehemaligen Schüler
kommen, ist es das komplette Gegenteil: Hier sind die Kinder ständig im Slum
unterwegs und bekommen – wenn überhaupt – nur das Nötigste an Fürsorge. Dafür
spielen sie mit Murmeln oder Cricket. Selten allein, häufig zusammen. So ein
enges soziales Netz wie in dieser Gemeinschaft hat auch viele Nachteile, vor
allem im Hinblick auf die Wahlfreiheit jedes einzelnen in Bezug auf seine oder
ihre eigene Biographie.
Deshalb ist es mir wichtig, immer
Vorteile zu sehen, durch die man lernen kann. Die Vorteile, die unsere
Lebensart hier in Deutschland hat. Und die Vorteile die die Lebensart dieser
Menschen hat. Es gibt weder schwarz, noch weiß. Wie wir leben, hängt viel mit
unserer Geschichte, unserem Selbstverständnis, unserer finanziellen Situation
zusammen. Gerade Letzteres sollte aber nicht zum alles bestimmenden Faktor
werden. Ich möchte keinesfalls hier ein Plädoyer halten nach dem Motto: „Schaut
nach Indien, mit welcher natürlichen Freude diese armen Menschen dort leben!“
Das ist mir zu platt. Einige Probleme, die wir uns hier in Deutschland durch
unseren Wohlstand erst schaffen, können wir aber auch ganz einfach wieder
begraben. Zum Beispiel der Zwang, dass für jedes Kind ein neuer Kinderwagen
gekauft werden muss.
Das werde ich sicherlich aus
meinem Jahr als Erkenntnis mitnehmen: Ich werde meinen Wohlstand ausnutzen, wo
ich es für sinnvoll und nötig halte. Und wo es mir einen echten Gewinn bringt.
Bezogen auf Verhaltens- und
Denkweisen suche ich mir das heraus, was mir besser gefällt. Es heißt immer,
die sogenannten „Entwicklungsländer“ können nur von uns „Industrienationen“
lernen. Dabei ist die Wahrheit: Auch wir, die angeblich weit entwickelten
Westeuropäer, können noch viel von anderen Nationen und Kulturen lernen. Oder
müssen es vielleicht sogar.
Kurz vor meiner Rückkehr habe ich
mich sehr auf Deutschland gefreut. Die Vorfreude war berechtigt. Deutschland
wird immer meine Heimat werden. Was nicht heißt, dass ich nicht für einen
längeren Zeitraum mal wieder in einem anderen, uns ganz fremd anmutenden Land
heimisch werden kann. Mein bisheriges Leben und meine bisherigen Erfahrungen
haben mir ermöglicht, ganz einfach wieder in Deutschland anzukommen. Es war nur
ein kurzer Kulturschock. Ein Kulturschock 2.0, ich musste mich erst wieder an
das Gewohnte gewöhnen. Das ging ziemlich schnell. Denn viele Werte unserer
Gesellschaft habe ich die ganze Zeit über weiter in mir getragen.
Überhaupt wird gerne über Werte
gesprochen. Werte, die eine Gesellschaft, eine Kultur auszeichnen. Vom Wert des
Geldes ist dabei nicht so oft die Rede. Dabei ist er es eigentlich, der in
unserer und auch in der aufstrebenden indischen Gesellschaft eine immer
wichtigere Rolle spielt. Lasst uns doch mal wieder einen stärkeren Fokus auf
die anderen Werte legen!