Montag, 23. September 2013

Was nach einem Jahr Indien bleibt


Ein Monat ist nichts im Vergleich zu einem Jahr. Seit einem Monat bin ich erst wieder hier in Deutschland – und doch kommt mir Indien und meine Zeit dort plötzlich so weit weg vor. Nach dem ersten Kulturschock im heimischen Deutschland habe ich mich aber schnell wieder an das Leben hier gewöhnt. 18 Jahre meines Lebens haben mich eben doch nicht unwesentlich geprägt.
Sehr bald hatte ich mich wieder daran gewöhnt, wie die Menschen hier ticken: Völlig anders als in Indien. Das eine muss nicht besser als das andere sein, der Unterschied ist aber frappierend. Um dies festzustellen, musste ich erst zurückkehren, nach meiner Ankunft in Indien war es mir nicht so offensichtlich geworden. Schnell bin ich wieder in meine alte Rolle geschlüpft, als einer von vielen.
Die Aufmerksamkeit, die ich als Weißer in Indien automatisch zuteil bekam, war plötzlich verschwunden. Oft hat mich das „Besonders-Sein“ genervt, aber es war zur Gewohnheit geworden. Und in der einen oder anderen Situation habe ich die daraus resultierenden Vorteile auch gerne ausgenutzt.
Bereits am Flughafen in Düsseldorf, als ich umringt von Weißen auf mein Gepäck wartete, hatte ich ein komisches Gefühl. Lediglich die indische Familie neben mir, die auf Hindi sprach, während sie auf ihren gesamten Hausrat (die Masse des Gepäcks ließ zumindest darauf schließen) wartete, gab mir ein Stück Heimat zurück. Heimat? Ja, Heimat! Denn Indien ist über das Jahr hinweg meine zweite Heimat geworden. Im Nachhinein erinnere ich mich jetzt natürlich weniger an die nervigen Rikscha-Fahrer, die Hitze und die starrenden Inder, sondern mehr an die gute Küche, tolle Landschaften und nette und warmherzige Menschen. Das ist das Schöne an Erinnerungen: Im Rückblick malt man sich Vieles in rosaroten Farben.
Nur den Lärm, den vermisse ich kaum. In Delhi war es schwer, mal wirklich zur Ruhe zu kommen, in Cloppenburg ist es nun eher das Gegenteil. Schon auf der Autobahn aus Düsseldorf war es ungewohnt ruhig – nicht zuletzt, weil die Hupe in Deutschland seltener benutzt wird. Auf den Straßen – selbst in den sogenannten Großstädten wie Hannover – ist kaum etwas los. Das ist zunächst natürlich ungewohnt, aber kein Nachteil.
Ich schäme mich auch nicht für meinen Wohlstand, nur weil ich ein Jahr mit sehr armen Menschen fast täglich Kontakt hatte und über Facebook immer noch mit ihnen in Kontakt stehe. Genauso, wie ich in Indien auch öfters von meinem vollen Geldbeutel (im übertragenen Sinne) Gebrauch gemacht habe. Trotzdem kann ich und können wir von diesen Menschen meines Erachtens nach lernen. Wenn ich mitbekomme, wie sich Rentner in einer  Mietwohnung in einem Vorort von Hannover über spielende Kinder oder für ihren Geschmack zu lange hängende Wäsche ereifern, kann ich nur den Kopf schütteln. In Indien ist es die absolute Ausnahme, dass eine Familie keine Kinder hat – was zu den bekannten demographischen Problemen führt. Kinder sind dort in eigentlich jedem Haushalt zu finden, die Großfamilien wohnen unter einem Dach. Ich will nicht dafür eintreten, dass das deutsche Bevölkerungswachstum rasant in die Höhe schnellt, aber wenn Kinder hier wieder „normal“ wären und ungestört spielen können, wäre uns schon geholfen.
Absurd mutet für mich auch an, wie sehr manche deutsche Kinder hofiert werden. Die Kinderzimmer platzen vor den neuesten Spielzeugen und Konsolen, sodass die Kinder kaum noch aus ihnen heraus kommen. Andererseits gibt es in Cloppenburg in den Neubausiedlungen kaum noch frei zugängige Bolzplätze. Und wenn man auf der Straße spielt, dauert es vermutlich nicht lange, ehe sich der Nachbar belästigt fühlt.
In Kathputli Colony, dem Slum, aus dem meine ehemaligen Schüler kommen, ist es das komplette Gegenteil: Hier sind die Kinder ständig im Slum unterwegs und bekommen – wenn überhaupt – nur das Nötigste an Fürsorge. Dafür spielen sie mit Murmeln oder Cricket. Selten allein, häufig zusammen. So ein enges soziales Netz wie in dieser Gemeinschaft hat auch viele Nachteile, vor allem im Hinblick auf die Wahlfreiheit jedes einzelnen in Bezug auf seine oder ihre eigene Biographie.
Deshalb ist es mir wichtig, immer Vorteile zu sehen, durch die man lernen kann. Die Vorteile, die unsere Lebensart hier in Deutschland hat. Und die Vorteile die die Lebensart dieser Menschen hat. Es gibt weder schwarz, noch weiß. Wie wir leben, hängt viel mit unserer Geschichte, unserem Selbstverständnis, unserer finanziellen Situation zusammen. Gerade Letzteres sollte aber nicht zum alles bestimmenden Faktor werden. Ich möchte keinesfalls hier ein Plädoyer halten nach dem Motto: „Schaut nach Indien, mit welcher natürlichen Freude diese armen Menschen dort leben!“ Das ist mir zu platt. Einige Probleme, die wir uns hier in Deutschland durch unseren Wohlstand erst schaffen, können wir aber auch ganz einfach wieder begraben. Zum Beispiel der Zwang, dass für jedes Kind ein neuer Kinderwagen gekauft werden muss.
Das werde ich sicherlich aus meinem Jahr als Erkenntnis mitnehmen: Ich werde meinen Wohlstand ausnutzen, wo ich es für sinnvoll und nötig halte. Und wo es mir einen echten Gewinn bringt.
Bezogen auf Verhaltens- und Denkweisen suche ich mir das heraus, was mir besser gefällt. Es heißt immer, die sogenannten „Entwicklungsländer“ können nur von uns „Industrienationen“ lernen. Dabei ist die Wahrheit: Auch wir, die angeblich weit entwickelten Westeuropäer, können noch viel von anderen Nationen und Kulturen lernen. Oder müssen es vielleicht sogar.
Kurz vor meiner Rückkehr habe ich mich sehr auf Deutschland gefreut. Die Vorfreude war berechtigt. Deutschland wird immer meine Heimat werden. Was nicht heißt, dass ich nicht für einen längeren Zeitraum mal wieder in einem anderen, uns ganz fremd anmutenden Land heimisch werden kann. Mein bisheriges Leben und meine bisherigen Erfahrungen haben mir ermöglicht, ganz einfach wieder in Deutschland anzukommen. Es war nur ein kurzer Kulturschock. Ein Kulturschock 2.0, ich musste mich erst wieder an das Gewohnte gewöhnen. Das ging ziemlich schnell. Denn viele Werte unserer Gesellschaft habe ich die ganze Zeit über weiter in mir getragen.

Überhaupt wird gerne über Werte gesprochen. Werte, die eine Gesellschaft, eine Kultur auszeichnen. Vom Wert des Geldes ist dabei nicht so oft die Rede. Dabei ist er es eigentlich, der in unserer und auch in der aufstrebenden indischen Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle spielt. Lasst uns doch mal wieder einen stärkeren Fokus auf die anderen Werte legen!