Freitag, 21. September 2012
Montag, 17. September 2012
Wir wissen wie es ist, allein zu sein, Sir!
Der erste echte Besuch meiner Aufnahmeorganisation, der
Kalakar Vikas School, er wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Eigentlich
sollten Joey und ich schon anfangen zu arbeiten, doch am Ende wurde daraus doch
nur ein kurzer Rundgang. Aber alles der Reihe nach. Denn hinter uns liegt ein
ziemlich ereignisreiches Wochenende.
Den Sonntag verbrachten wir mit anderen Freiwilligen in den
verschiedensten Ecken Delhis. Das erste Mal bekam ich zu Gesicht, wie vielfältig
die Stadt ist. In mehrerer Hinsicht. Das krasseste Beispiel für die Vielfalt
ist der viel beschworene Gegensatz zwischen Arm und Reich. Er wird mich wohl
ein Jahr lang begleiten. Wir trafen die anderen Freiwilligen am Connaught
Place, mitten im Herzen Delhis, einem typischen Touristenpunkt. Wo Touristen
erwartet werden, sind natürlich auch jede Menge Bettler. Kinder, die um Geld
flehen. Oder alte Frauen. Ein wirklich unangenehmes Gefühl, sie belagern uns
Deutsche regelrecht. Und wer sie wie ich ignoriert, muss schon mal damit
rechnen, gekniffen zu werden. Überhaupt habe ich das Pech, praktisch die ganze
Zeit mit einem Fast-Inder herumzulaufen. Joeys Vater ist Ägypter, sodass die
Inder ihn fast immer für einen von ihnen halten. Ich als blasser, weißer Deutscher
falle da noch mehr auf. Das geht so weit, dass die Kinder in dem Slum, in dem
die Kalakar Vikas School liegt, mich mit großen Augen anschauen und freundlich
grüßen, während Joey ja nur irgendein anderer Inder ist. Ein ganz freches
Mädchen hat mir auch gleich schon mal die Hand gegeben. Aber eigentlich wollte
ich erst später auf meinen ersten Besuch der Schule zu sprechen kommen. Vorher,
genauer genommen am Samstagabend, war da ja noch die Geschichte mit der Maus.
Die Maus, die durch
den Ventilator kam. Noch wohnen wir ja nicht im neu renovierten Haus,
sondern in einer ziemlich einfachen Mietswohnung. In unserem Zimmer gab es zwei
Ventilatoren. Ventilatoren sind lebensnotwendig. Abends haben wir die Wahl
zwischen zwei Übeln: Einem ultimativen Schweißbad bei angenehmer Ruhe, weil der
Ventilator an der Decke ausgeschaltet
ist. Oder einem wenigstens schwer erträglichen Schweißbad beim Lärm
unseres rotierenden Freundes. Wir entscheiden uns immer für letzteres, um nicht
im Wasserbett schlafen zu müssen.
Jetzt schreibe ich schon wieder über den Ventilator und die
drückende Schwüle. Dabei sollte es doch eigentlich um die Maus gehen. Die hat
uns nämlich einen Ventilator geraubt und gleichzeitig mehr Sicherheit
geschenkt. Direkt neben meinem Bett ist ein Fenster, das nur notdürftig
verriegelt war. Immerhin hat es einen eingebauten Ventilator. Durch irgendeine
dieser Öffnungen fiel am Samstagabend ein graues Bündel. Joey hat es sofort als
Maus identifiziert. Doch trotz halbstündiger Suche blieb unser neuer Mitbewohner
unauffindbar. Wir setzten unsere Gastfamilie in Kenntnis, und schon
bewahrheitete sich, was Joey befürchtet hatte. Die Familie war in Aufruhr. Es
wurde wild auf Hindi diskutiert, mit dem Resultat, dass wir eine Mausefalle ins
Zimmer bekamen. Schwitzend lag ich umgeben von meinem Moskito-Zelt in meinem
Bett, als auf einmal ein kurzer, aber lauter Schlag ertönte. Auch Joey
schreckte hoch. Die Maus war gefangen. Sie lief in der Falle herum und wir
schliefen beruhigt ein. Seit Sonntag ist das brüchige Fenster niet- und
nagelfest verriegelt. Danke, liebe Maus, für deinen Einsatz!
Jetzt können wir in Ruhe schlafen, und Schlaf brauchen wir
auch dringend bei dem, was uns in den kommenden Wochen und Monaten erwartet.
Aufgeweckte, freundliche Kinder in einer der schmutzigsten Gegenden Delhis.
Schon der Geruch im Slum Kathputli Colony
verrät, dass hier auf Hygiene nicht sonderlich geachtet wird. Zum Glück ist
die Schule verhältnismäßig geruchsneutral. Priya heißt uns willkommen und führt
uns durch die einfachen Gebäude. Sie erzählt uns, dass vormittags die Jungen
und nachmittags die Mädchen kommen. Als wir da sind, werden gerade die Mädchen
unterrichtet. Nachdem wir einen Klassenraum betreten haben, stellt uns die
unterrichtende Lehrkraft als neue Freiwillige vor. Strahlend begrüßen uns die
Mädchen mit einem lauten „Welcome, Sir!“. Na also! Wobei mich das „Sir“ nicht
darüber hinwegtäuschen kann, dass ich einige Kraft benötigen werde, um diese Meute
zu bändigen. Ganz zu schweigen von den Sprachbarrieren. Viele der jüngeren
Schüler sprechen gar kein Englisch oder nur sehr wenig. Erste Erfahrungen
machten wir, als wir am Ende noch einmal alleine einen Rundgang über das
Gelände unternahmen. Mich, den offensichtlichen Ausländer, quatschte ein Kind
auf Hindi an und wollte partout nicht verstehen, dass ich nur Englisch spreche.
Es blieb bei einer sehr kurzen Konversation; man kann sagen, wir redeten
aneinander vorbei…
Leichter fiel uns da schon die Verständigung mit der Gruppe
Jungen, die am Skypen mit Yannick war, einem unserer Vorgänger. Sofort nahmen
die Jungs uns begeistert auf und hatten gleich Vorschläge, was wir doch mit
ihnen machen könnten. Wir mussten sie vertrösten, aber auch sie sprachen uns
Mut zu. Einer von ihnen – die Namen muss ich noch lernen! – sagte uns, wir
sollten uns keine Sorgen machen. Sie wüssten, wie es ist ohne Eltern und
Familie zu leben und sich allein zu fühlen. Sie sind teilweise ohne Mutter und
Vater aufgewachsen. Das ist eben auch eine der vielen Realitäten in Indien…
Samstag, 15. September 2012
Kulturschock? Ist doch fast alles so wie gedacht…
Ich bin da! Um das, was ich in den ersten
Stunden und Tagen erlebe, zu beschreiben, reicht das Wort „Kulturschock“ nicht
aus. Teilweise. Andererseits ist vieles gar nicht so, wie vorher beschrieben.
Es gibt Männer, die kurze Hosen tragen, und in unserer Gastfamilie wird mit
Löffeln gegessen.
Der offensichtlichste Unterschied ist die
drückenden Schwüle: Schon in Dubai habe ich das Gefühl, in die Sauna zu gehen,
sobald ich den gekühlten Flughafen verlasse. Apropos Dubai, unfreiwillig bin
ich ausgecheckt und hätte theoretisch 30 Tage in den Vereinigten Arabischen
Emiraten bleiben können. Mitten in der Wüste, wie ich beim Abflug feststellen
sollte.
Ich habe es sein lassen und bin weitergeflogen
bis Delhi. Schon beim Landeanflug fiel mir auf, dass viele Häuser von oben
seltsam baufällig aussehen. Nur das Klima, das konnte ich oben noch nicht
spüren. Feucht und heißt – da wird der Ventilator zum absoluten
Lieblingsgegenstand. Der erste Eindruck von Delhi bestätigt einige Vorurteile,
und dennoch reichen sie nicht aus, um das Gesehene zu erfassen. Zusammen mit
unserer Gastfamilie – sorry, die Namen reiche ich noch nach – warten Joey und ich
auf unseren Fahrer. Der fährt unerwartet langsam, maximal 50 Stundenkilometer.
Das Geheimnis dahinter ist: Es geht nicht schneller. Jeder versucht so schnell
wie möglich an sein Ziel zu kommen, und fährt da, wo gerade Platz ist auf der
Straße. Jeder, das sind Autofahrer, Motorrad- und Rollerfahrer, Fahrradfahrer,
Rikschafahrer und Fußgänger. Irgendwie gibt es ein Grundvertrauen der Inder,
dass der Gegenüber im Straßenverkehr noch rechtzeitig wird bremsen können. Und
eigentlich ist Autofahren ja auch nicht schwer, weshalb man in Indien keinen
Führerschein braucht. Das hat uns Gagan erzählt, der Sohn der Gastfamilie, der
Englisch spricht und im April heiraten wird. Vorher steht aber für uns noch ein
Umzug an – in ein neu renoviertes Haus. Drei bis vier Monate soll es noch
dauern. Gagan hat uns das Haus schon gezeigt. Um ehrlich zu sein: Ich kann mir
noch nicht vorstellen, dass es jemals bewohnbar sein wird. Im Moment haben wir
unser Zimmer in einer kleinen Wohnung. Mit Ventilator, wobei der ja schon fast
zu den lebensnotwendigen Dingen zählt. Genauso wie die Schärfe im Essen. Die
ist sogar extra auf unsere Gaumen angepasst, wie uns Gagan erzählt. Es ist auch
noch überraschend mild, aber mit der Zeit wollen sie uns an schärferes Essen
gewöhnen. Man merkt, dass die Familie Erfahrung hat mit deutschen Gästen, und
das beruhigt mich. Wir können problemlos das Leitungswasser trinken, weil die
Familie einen Filter gekauft hat. Also, für uns ist gesorgt. Und Joey und ich
müssen uns nicht einmal ein Bett teilen, wie uns im Vorfeld gesagt wurde. Um
die Wohnsituation kurz zusammenzufassen: Aus deutscher Sicht unvorstellbare
Zustände, aus indischer Sicht mittelständischer Luxus. Ich kann mich an die
indische Sicht gewöhnen. Muss ich wohl auch…
Gleich geht es wieder raus, raus auf die
Straße. Man darf den Indern keinen Vorwurf machen, sie hupen bevor sie an dir
vorbei rasen. Ich werde versuchen Fotos zu machen. Hauptsache, meine Kamera
fällt nicht in den Schlamm… Wie wird das wohl, wenn der Monsun kommt?
Ich kann das alles eigentlich noch gar nicht
richtig einordnen .Gagan und seine Familie sind nett und vetrauenswürdig, da
lege ich mich fest. Bisher habe ich noch mit gar nicht so vielen anderen Indern
gesprochen. All das, was ich hier in meinen ersten Zeilen aus Neu-Delhi beschrieben
habe, sind nur Eindrücke. Stellt es euch vor, als geht ihr in ein Kino mit vier
Leinwänden, einer an jeder Wand. Auf jeder Leinwand läuft ein komplett anderer
Film. Auf der einen ein alter, der dich Jahrzehnte zurückwirft. Auf der anderen
dagegen ein moderner, der dich an die Gegenwart zu Hause erinnert. Und auf den
anderen zwei Leinwänden laufen Filme, die du noch gar nicht einordnen kannst.
Ich werde versuchen, all diese Filmfetzen
zusammenzuführen und euch ein umfassendes Bild zu machen. Was vorerst bleibt,
sind Eindrücke. Viele Eindrücke.
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