Sonntag, 19. Mai 2013


Eine Reise in fünf Akten


Samstagmorgen, 04. Mai, 06.20 Uhr: Abflug aus Delhi. Bei meinem dritten Aufenthalt am Indira Gandhi International Airport von New Delhi nehme ich erstmals den Abzweig zum Terminal für Inlandsflüge.



Zusammen mit Tine, einer Mitfreiwilligen von meiner deutschen Organisation VIA, steige ich in die IndiGo-Maschine mit Ziel Kochi in Kerala, dem südwestlichsten Bundesstaat des Subkontinents. Ganz nach dem Werbespruch „GoIndiGo“ haben wir die laut Eigenwerbung „demokratischste Airline Indiens“ gewählt – hier gibt es keine Zwei-Klassengesellschaft, alle fliegen in der Economy Class. IndiGo ist eine Billigfluglinie, aber der Vergleich mit Ryanair hinkt, etwas mehr Komfort ist dann doch geboten. GermanWings trifft es wohl besser.

Über den Wolken.

Der gut einwöchige Urlaub in Südindien beginnt allerdings schon am Flughafen von Delhi mit einem Ärgernis. Vor dem Security Check bittet mich die zuständige Dame, mein Handy aus der Tasche zu nehmen. Das Problem: Ich hatte mal ein Handy. Nun freut sich wahrscheinlich der Taxifahrer über ein Schnäppchen. Wir rufen ihn zwar noch an, aber der arme Mann scheint noch nie das Wort „mobile phone“ gehört zu haben. Was für eine Bildungslücke in einem Land, in dem selbst im Slum fast jeder ein phone hat.
Was soll’s, sage ich mir, das kann mir den lang ersehnten Urlaub nicht vermiesen. Endlich raus aus der brütenden Hitze Delhis mit den zu diesem Zeitpunkt Toptemperaturen bis zu 40 Grad Celsius. Raus aus Smog, Lärm und Müll. Auf in Indiens reichsten Bundesstaat!
Kerala hat alles zu bieten: Strand, Backwaters, Nationalparks und Berge.
Und ein anderes Klima, das in Kochi aber nicht unbedingt angenehmer ist als in Delhi. Es ist zwar ein paar Grad kühler als in Delhi, aber dafür jetzt schon schwül – der Monsun startet seinen Streifzug über den Subkontinent schließlich im Südwesten.
Vom Kochi International Airport brauchen wir noch einmal rund zwei Stunden ins Fort Kochi. Zur Millionenstadt Kochi gehört auch Ernakulam, aber den eigentlichen Reiz macht das Fort aus.
Kleine enge Straßen, auf denen – ganz anders als in Delhi - kaum Müll liegt, dazu viele bunte Häuser und ein hübscher Hafenbereich.

Chinesische Fischernetze im Fort.

Wir halten uns vorerst aber nicht länger im irgendwie verschlafenen Kochi auf, sondern nehmen die Autofähre (Fahrzeit: ca. fünf Minuten) nach

VYPEEN

Vypeen ist eine Insel, die dem Reiseführer Lonely Planet zufolge „unberührten, weißen Sandstrand“ zu bieten hat. Nun, darunter verstehen Tine und ich dann doch etwas Anderes, als das, was wir vorgefunden haben.
Doch obwohl an manchen Stellen Müll lag, konnte man am Cherai Beach entspannen. Manchmal fanden Sonnenstrahlen den Weg durch die Wolkendecke und fielen auf die hohen, schäumenden Wellen, die die Küste erreichten. Dazu waren wir fast die einzigen ausländischen Touristen – wir waren einmal mehr mittendrin in diesem Land. Und wenn ich gerade nicht ins Meer hinausschwamm, beobachtete ich zusammen mit Tine die indischen Strandbesucher. Die Frauen gingen maximal bis zu den Knien ins Wasser, ohne dabei allerdings ihre Gewänder hochzukrempeln. Die Männer waren da mitunter schon „freizügiger“, einige von ihnen gingen sogar in Shorts und mit freiem Oberkörper ins Wasser – ein Glück für mich, denn anders als Tine konnte ich so ganz normal baden. Allerdings gab es auch die männlichen Kandidaten, die sich mit Jeans und T-Shirt in die Wellen schmissen. Eine verrückte Badekultur, wenn man es denn so nennen kann. Ich war jedenfalls ein Exot, indem ich ins offene Meer hinausschwamm.




Eine Nacht am Cherai Beach genügte uns, denn – so schön es auf der einen Seite auch war – viele Hotels und Restaurants waren mit Renovieren beschäftigt. Die Saison geht nämlich hier nur bis März.
Dennoch wollten wir nichts unversucht lassen, den „weißen, unberührten Sandstrand“ zu finden und fuhren mit einer völlig überteuerten Rikscha ans andere Ende des Strandes.
Außer einer kleinen Bucht, Steinküste sowie geschlossenen Hotels und Restaurants gab es hier nichts, weshalb wir unsere Reise fortsetzten und per Rikscha und Fähre zurück nach Fort Kochi fuhren.

Auf der Suche nach dem "weißen, unberührten
Sandstrand".

Hier verbrachten wir die Mittagszeit mit der verzweifelten Suche nach einem preiswerten, aber ordentlichen Restaurant, das wir letztlich in Ernakulam in der Nähe des Busbahnhofes finden sollten. Dabei waren wir eigentlich schon in Fort Kochi erfolgreich gewesen. Leider nur eigentlich. Denn als wir im nun legendären Seaface-Restaurant bestellen wollten, wurden wir schlichtweg ignoriert, selbst nach dem zehnten Excuse me. Eine andere Restaurantbesucherin brachte den einen Kellner zumindest dazu, mit uns zu kommunizieren. Kommunizieren bedeutete in diesem Fall allerdings, dass er anstatt mit uns zu reden irgendwelche komischen Handbewegungen machte. Wir hatten genug gesehen und machten uns per Bus auf den Weg nach´

Ein überdimensionales Wahlplakat auf dem Weg.

ALLAPUZAH (ALLAPEY)

Allapuzah wurde vom Lonely Planet als entfernter Verwandter Venedigs gepriesen. Obwohl ich Venedig noch nie gesehen habe, könnte der Vergleich sogar passen.

Eine Wasserstraße in Allapuzah.

Die Stadt wird von Kanälen durchzogen, die außerhalb zu den berühmten backwaters werden. Auf diese backwaters fuhren wir am dritten Tag unserer Reise hinaus – mit dem Kanu und einem Bootsmann, der uns auch das Leben abseits der Hauptwasserstraßen zeigte.
Die passendste Beschreibung des Begriffes backwater liefert das PONS-Onlinewörterbuch: Der Ort, an dem die Uhren still stehen.
Auf den breiteren Kanälen begegneten wir immer mal wieder größeren Hausbooten, aber die kleinen Seitenarme waren die willkommene Flucht in die reine Natur. Es herrschte eine Ruhe, wie ich sie letztmals wohl in Deutschland genossen habe. Kleine, schmucke und farbenfrohe Häuser säumten das Ufer. Vereinzelt badete ein Mann im Wasser oder eine Frau wusch Kleidung. Ansonsten schien das Leben weitestgehend still zu stehen.

Anwohner bei der Arbeit.

Auch im größten Idyll ist Vodafone allgegenwärtig.

Ein Mann bei der Fruchternte.



Unser Bootsmann und Reiseführer.

Wir waren nicht ganz allein auf dem Wasser.

Nicht nur Kühe und Mütter geben Milch.

Da können wir ja nur vorankommen.

Inmitten dieser Idylle legten wir einen Zwischenstopp ein und tranken Kokosnuss-Milch direkt aus der Frucht. Das ist der Moment, an dem man fühlt, dass man im Urlaub ist.
Am frühen Abend war unsere Tour beendet. Weil Allapuzah außer backwaters nicht allzu viel zu bieten hat, entschieden wir uns, in die Berge zu fahren, in das Periyar Wildlife Sanctuary, einen Nationalpark an der Grenze zum Bundesstaat Tamil Nadu.
Der einzige Bus in den Ort Kumily fuhr um 6.40 am frühen Morgen ab, weshalb Tine ihren Wecker auf 6 Uhr stellte. Geweckt wurde ich allerdings mit den Worten: „Benny, unser Bus fährt jetzt gerade ab.“ Es war 6.40, wir hatten verschlafen. Wir ließen uns nun ein wenig Zeit und disponierten um. Uns blieb nichts anderes übrig, als einen Umweg über Kochi in Kauf zu nehmen. Um 8 Uhr kamen wir am Busbahnhof an und ich fragte den nächstbesten Bus, ob er nach Kochi fahre. „No, Kumily“, war die Antwort.
Zwei Minuten später, und der Bus wäre weg gewesen. Gibt es das Schicksal vielleicht doch? Bis heute wissen wir nicht, ob der Bus einfach nur anderthalb Stunden zu spät war oder noch ein zweiter eingesetzt wurde.
Sei’s drum, wir kamen dank unseres perfekten Timings auf direktem Weg nach

KUMILY

 Der kleine Ort am Rande des Nationalparks dürfte während der Saison hoffnungslos überlaufen sein, wenn man die Fülle an Hotels hier betrachtet.
Als wir da waren, war es herrlich. Angenehm kühle Temperaturen, sodass wir auf der Busfahrt hinauf in die Berge schon leicht froren. Der schäbige Bus schlängelte sich die engen Bergstraßen hinauf, vorbei an steilen Abhängen und grünen Teeplantagen. Die Flucht hinaus aus der lauten, schmutzigen Stadt in die Natur war uns spätestens hier endgültig gelungen.
Wir ließen uns in einer Ansammlung von Bambushütten nieder, die von Bäumen und einem freien Feld umgeben waren. Abends bekamen wir sogar Besuch von einem Frosch.


Bei der anschließenden Wanderung durch den Nationalpark konnten wir endlich das nachholen, was wir auf unsere bisherigen Reise und ich angesichts der Temperaturen in Delhi vernachlässigt hatten: Sport! Wobei wir uns schon wunderten, warum für eine 15 Kilometer lange Wanderung durch die Berge neun (!) Stunden veranschlagt waren. Die Antwort war ziemlich simpel: Eine zweistündige Mittagspause war eingeplant, während der unsere zwei Führer und der Begleitpolizist (Ja, mehr Begleiter als Besucher) schliefen. Trotz der vielen Pausen war ich abends zumindest etwas müder als normal. Nur einen Tiger oder Elefanten haben wir nicht zu Gesicht bekommen, aber immerhin frei lebende Bisons.

Anwohner bei der Honigernte im Nationalpark.

Blick auf Kumily.

An der (Wasser-)Quelle.

Unsere nächste Busfahrt sollte am nächsten Morgen komplett durch die bergigen Westghats gehen. Über schmale Straßen in atemberaubender Höhe fuhren wir weiter in eines der weltweit höchst gelegensten Teeanbaugebiete nach

MUNNAR

Auf dem Weg dorthin passierte an einer Steigung dann das, was eigentlich schon viel eher hätte geschehen können. Unser maroder, staatlicher Bus gab den Geist auf. Zum Glück war er nur so voll, dass man die geschätzt rund fünfzehn Passagiere in einen Jeep zwängen konnte, der uns auf eine Straße brachte, in der wir in einen weiteren Bus nach Munnar einsteigen konnten.

Diagnose: Motorschaden.

Munnar ist für indische Verhältnisse ein kleiner Ort, hat aber immer noch mehr als doppelt so viele Einwohner wie Cloppenburg. Der Ort selbst ist nicht wirklich hübsch, er ist belebt und eng und es wimmelt nur so von Tee- und Gewürzläden.
Sobald man aber nur einige hundert Meter aus dem Ortskern herausfährt, taucht man ein in das Grün der Teeplantagen. Ein kühles, wenn auch feuchtes Klima mitten in den Westghats – Luft holen, bevor es zurück nach Delhi geht!
Von Munnar habe ich leider keine Fotos, weil ich meine Kamera beschädigt habe und wir - warum nur? - kein Fotohandy mehr bei uns hatten. Wer die Schönheit Munnars sehen will, muss also selbst hinreisen.
Zwei Nächte wollten wir bleiben und an dem vollen Tag, der uns blieb, unser Sportprogramm fortführen. Deshalb machten wir uns am Nachmittag nach unserer Ankunft auf die Suche nach Fahrrädern, was einer Odyssee gleichkam. Endlich hatten wir über einen Kontaktmann des Touristenbüros ein Rad organisiert und uns mit ihm für zehn Uhr am nächsten Morgen verabredet. In einem Hotel, das ein Rad verfügbar hatte, bestätigten wir einem Kollegen unseres ersten Ansprechpartners die Leihe für den nächsten Tag.
Mit einstündiger Verspätung wurden wir schließlich in den Ortskern zitiert, um das Fahrrad abzuholen. Aus praktischen Gründen wollten wir zuerst das versprochene zweite Rad leihen. Leider war uns jemand anders zuvor gekommen. Da der eine Mitarbeiter aber ein schlechtes Gewissen hatte, wurde uns in Null-Komma-Nix ein plötzlich doch verfügbares zweites Rad organisiert. Es war mehr oder weniger fahrtüchtig. Anders das Fahrrad, das wir anschließend abholten. Bis auf die Stoßstange ist es aber nicht auseinander gefallen – und aufgrund seines Zustandes bekamen wir es umsonst. Alles andere wäre nicht fair, meinte unser Kontaktmann. Wo er Recht hat, hat er Recht.
Mit zwei Rädern ohne Gangschaltung und mit bedingt funktionierenden Bremsen schnauften wir die Berge hoch. Irgendwo hin, Hauptsache Natur. So kam es, dass wir – nachdem wir ein paar Dörfer hinter uns gelassen hatten – mitten in der Wildnis landeten, auf einem einsamen Pfad, auf dem uns anfangs noch vereinzelt Menschen entgegen kamen, die Holz sammeln waren. Wir machten Rast an einem gruseligen Ort, an dem ein Dreizack und Kleidung lagen. Wir schoben die Räder über einen unebenen Sandweg ehe wir schließlich eine geteerte Straße, die nach Munnar zurückführte fanden. Noch ein mörderischer Anstieg lag vor uns – und dann hieß es „Freie Fahrt für frei Bürger“. Die sieben Kilometer zurück nach Munnar konnten wir uns einfach die kurvige Bergstraße hinunterrollen lassen. Freiheit pur!
Und irgendwie das inoffizielle Ende des Urlaubs abseits der Stadt. Denn am Samstag ging es noch einmal zurück ins Fort nach

KOCHI

Wie gesagt, Kochi hat einen unwiderstehlichen Charme. Kleine Straßen, Relikte aus der Zeit des Kolonialismus und ein Stück Strand, das zumindest mit dem Cherai Beach mithalten kann. Dazu leckere Restaurants und viele Kirchen – in Kerala gibt es deutlich mehr Christen als im Norden Indiens und im Delhi. Dazu kaum Bettler, nicht umsonst ist es der reichste Bundesstaat Indiens. Ein weitgereister Restaurantbesitzer hat uns seine durchaus schlüssige Erklärung dafür gegeben, aber das führt jetzt zu weit. Vielleicht greife ich es an anderer Stelle noch mal auf.
Gut ein Tag blieb uns, ehe wir von Kochi Abschied nehmen mussten. Ängstlich stiegen wir in den Flieger zurück nach Delhi. Wir hatten von der drohenden Temperaturexplosion gehört. Umso überraschender war es, als der Pilot vor dem Landeflug verkündete, es herrschten angenehme 26 Grad. Okay, wir landeten auch um 23 Uhr. Am nächsten Mittag sollte es schon wieder deutlich heißer sein. Aber immerhin nicht heißer als vorher, Delhi hatte sich zwischenzeitlich wieder etwas abgekühlt.
Heute haben wir dagegen einen vorläufigen Hitzerekord. Das Thermometer zeigt 45 Grad.

Und hier noch mein neuester NWZ-Artikel über "meine" Kinder: http://www.nwzonline.de/cloppenburg/bildung/schon-kinder-pflegen-ellenbogenmentalitaet_a_5,1,1795211454.html

Donnerstag, 2. Mai 2013


Kinderhochzeit mit verwunderlichen Traditionen


Es wird immer heißer in Delhi, für das kommende Wochenende prognostiziert der Wetterdienst das Erreichen der 40-Grad-Celsius-Marke. Gerade rechtzeitig fliege ich also mit einer Freundin für gut eine Woche nach Kerala in Südindien. Kerala, das heißt: Sandstrand, Backwaters und vergleichsweise milde 33 Grad. Wenn ich dann wiederkomme, erlebe ich die voraussichtlich heißeste Zeit im „Hitzekessel“ Delhi. Der Mai und Juni, so heißt es, sind die unangenehmsten Monate, weil es heiß und trocken ist. Sobald der Regen einsetzt, wird die Hitze etwas erträglicher. Warten wir’s ab!
Mit der klimatisch heißen Zeit endet allerdings eine andere „heiße“ Zeit, nämlich die Hochzeitssaison. Bei den momentan noch halbwegs erträglichen Temperaturen bin ich Zeuge einer weiteren Hochzeit geworden, diesmal in Kathputli Colony, dem Slum neben unserer Schule. Zwei Brüder eines bereits verheirateten älteren Schülers haben geheiratet. Natürlich nicht untereinander, versteht sich. Auf das Gesetz hat die Familie dabei nicht so viel Wert gelegt. Demnach dürfen Männer erst im Alter von 21 Jahren heiraten, Frauen müssen 18 sein. Ein Bräutigam war wenigstens schon 20, was nach deutschem Recht immerhin legal wäre, der andere dagegen erst 15.
Was mich auch zu der Frage gebracht hat, ob ich es moralisch vertreten kann, so eine Hochzeit mit den Angehörigen zu feiern? Abgesehen davon, dass ich vom Alter der Bräutigams erst auf der Zeremonie selbst erfahren habe, konnte ich diese Frage recht schnell für mich beantworten. Die Hochzeit hätte auch ohne meine Anwesenheit stattgefunden, und die Einladung anzunehmen, war für mich ein Akt der Höflichkeit. Indem man der Hochzeit fern bleibt, ändert man nichts in den Köpfen der Menschen.
Dass es aber offenbar möglich ist, etwas zu verändern, zeigt das Beispiel eines anderen Schülers von mir. Pawan ist 14 und soll laut eigener Aussage erst heiraten, wenn er Ende 20 ist, genauso sein kleiner Bruder Rohit. Einer seiner älteren Brüder wurde dagegen vermählt, als er gerade einmal sieben (!) Jahre alt war. Ich habe mir die Zahl mindestens dreimal bestätigen lassen.
Anscheinend haben seine Eltern ihre Meinung geändert oder sich von Pawan überzeugen lassen, der sagt: „Das ist unsere Tradition, aber ich finde sie nicht gut.“ Es wäre auch schade, wenn der talentierte Junge jetzt oder in wenigen Jahren schon heiraten müsste.
Ich habe Pawans Eltern kennengelernt und sie waren sehr glücklich, als ich ihnen erzählt habe, dass ihr Sohn sehr gut Gitarre spielt. Die Mutter war stolz auf ihre beiden Söhne und froh, dass sie sich zumindest rudimentär mit mir auf Hindi unterhalten konnte. Erneut durfte ich die Gastfreundlichkeit im Slum genießen. Mir wurde nicht nur Tee, sondern sogar ein einfaches Abendessen serviert, weil die eigentlichen Hochzeitsfeierlichkeiten erst um 2 Uhr nachts anfingen und ich mächtig Hunger hatte. Und ich wurde sogar eingeladen, dort anschließend zu übernachten, weil sich die Mutter sorgte, mich nachts um halb fünf mit der Auto-Rikscha alleine nach Hause fahren zu lassen. Ich habe das Angebot abgelehnt, nicht weil ich dort nicht übernachten würde, sondern weil ich Tabletten gegen meinen Husten brauchte und ein extremes Schlafdefizit auszugleichen hatte.
Die Gastfreundschaft ist ein sehr schöner Teil der indischen Kultur, aber es gibt auch andere (angeblich) kulturelle Gepflogenheiten oder Traditionen, mit denen ich mich weniger anfreunden kann.
Dazu gehört das Ritual, während des Tanzes Geld um die Köpfe der Tänzer kreisen zu lassen, um es anschließend in die Luft zu werfen. Die umstehenden Kinder sammeln das Geld schließlich ein. Wobei „Einsammeln“ ein Euphemismus ist für das, was ich gesehen habe: Die Kinder haben sich heftig geprügelt um die umherflatternden Zehn-Rupien-Scheine, und wenn es einem Erwachsenen zu viel wurde, schlug er dazwischen. Nun sind zehn Rupien (ca. 14 Cent) an sich nicht viel Geld. Allerdings wurden die Scheine in Massen verteilt, die angesichts der Lebenssituation im Slum zunächst surreal erscheinen. Angeblich hat der Bruder des Bräutigams 35000 Rupien (umgerechnet rund 500 Euro) allein dafür ausgegeben an diesem Abend. Ich weiß natürlich nicht, ob diese Zahl stimmt, auf die Angaben hier kann man sich nicht verlassen. Pawan zum Beispiel hatte aber 1000 Rupien (gut 14 Euro) für denselben Zweck dabei. Mir fiel ein, dass er vor nicht allzu langer Zeit gesagt hatte, ich sei reich, weil ich in meiner Wohnung eine Gitarre für 3000 Rupien stehen hätte und er nicht. Als ich ihn daran erinnerte und fragte, warum er das Geld nicht besser für eine eigene Gitarre spare, verwies er mich nur auf die Tradition. Was sollte ich da noch antworten?
Jedenfalls hat mir die Hochzeit verdeutlicht, dass in Kathputli Colony die Prioritäten anders gesetzt werden als bei uns. Priyanka, eine meiner Kolleginnen, meint: „Das ist der reichste Slum in Delhi. Man kann es kaum Slum nennen. Die Menschen dort verdienen teilweise gutes Geld.“ Wer zunächst nur die Lebensbedingungen der Menschen sieht, wird sie für verrückt erklären. Auf einen beträchtlichen Teil der Colony-Bewohner trifft ihre Aussage meiner Einschätzung nach aber zu. So auch auf die Familie des Schülers, dessen Brüder geheiratet haben.
Anders als bei uns ist es nicht üblich, Geld zu sparen oder es in ein schönes Eigenheim zu investieren. Zu viel Geld geben die Slumbewohner sicherlich für Alkohol und Drogen aus, aber auch die Hochzeit hat offensichtlich eine enorme Summe verschlungen. Sie ähnelte in vielerlei Hinsicht der von Gagan, auch dieses Mal gab es eine Kutsche und sogar einzelne Pferde, auf denen einige Gäste reiten durften, unter anderem ich. Wir führten den Umzug aus dem Slum ins irgendwo außerhalb aufgebaute, recht einfache Festzelt an. Um halb fünf am Sonntagmorgen konnte ich endlich nach Hause, denn dann war das Festessen beendet. Kein Wunder, schließlich hatte die Zeremonie erst gegen zwei Uhr nachts  begonnen. Aufgrund des Todes einer Slumbewohnerin hätte es Veränderungen im Ablauf gegeben, erklärte mir ein Schüler. Als ich nachfragte, wie diese denn gestorben sei, bekam ich die Antwort: „Durch einen bösen Geist.“ Da konnte und wollte ich nicht weiter nachfragen. Die große Schwester der Tradition ist eben häufig die Religion.
Wobei Tradition immer relativ ist: Ich war der einzige, der eine traditionelle indische Khurta trug. Während wir auf den Beginn der Feierlichkeiten warteten, bekam ich einen roten Punkt auf die Stirn und einen Turban umgebunden und sah danach je nach Auge des Betrachters wie ein echter „Rajasthani“ (Bewohner des größten indischen Bundesstaates, aus dem auch die Künstler aus Kathputli Colony ursprünglich kommen) oder wie ein „Haryana Man“ aus (Bundesstaat westlich von Delhi). Im neuen Outfit durfte ich dann schon einmal Probesitzen auf dem Pferd, wobei sich das unerwartet in die Länge zog – einem kleinen indischen Jungen, der zu mir auf das Pferd gehoben wurde, sei Dank. Nach einer Weile fragte ich ihn, ob wir wieder absatteln wollten, doch er lehnte dankend ab. Ich fragte ihn danach immer mal wieder. Seine Antwort blieb stets gleich, wobei er irgendwann klang, als dächte er: Wie dumm ist der denn, dass er mich immer wieder fragt? Zum Glück wurden die Pferde müde, sodass wir nach gefühlten zwanzig Minuten runter mussten – bzw. durften.
Meine traditionelle Kleidung an diesem Tag hatte jedenfalls Eindruck hinterlassen. Viele der kleineren Schüler hatten mich gesehen und sogleich freudig begrüßt – ich kam mir zwischendurch vor wie Justin Bieber, was mir allerdings nicht sonderlich behagte (Warum bloß?). Als ich dann am Montag in die Schule kam, strahlten mich viele Gesichter an und meinten: „Sir ji, schadi*? Khurta aur* pagadi* - very nice!“

*ji – besondere Höflichkeitsform; schadi – „Hochzeit“ auf Hindi; aur – und; pagadi – Turban

Ich habe leider keine Fotos, weil ich mich nicht getraut habe, meine Kamera mitzunehmen. Angesichts der Kämpfe um Geld haben sich meine Sorgen als nicht ganz unbegründet erwiesen.