Ärzte-Aufmarsch für Benny-Sir!
Es ist an der Zeit, von meiner Arbeit zu berichten. Dabei
ist nur ein kleiner Haken an der Sache: Ich habe von meinem Projekt noch nicht
allzu viel gesehen. Um genau zu sein, die ganze letzte Woche rein gar nichts.
Insgesamt habe ich bis jetzt drei Tage lang gearbeitet, ehe mir das
Dengue-Fieber einen Strich durch die Rechnung machte. Doch der Reihe nach…
Die Kalakar Vikas School, in der ich das nächste Jahr über
Freizeitaktivitäten und Unterricht für die Schülerinnen und Schüler gestalten
soll, ist eine nicht-staatliche Schule. Die Schüler kommen freiwillig dorthin
und können bleiben, solange sie wollen. Morgens erhalten die Jungen ein wenig
Unterricht, während die Mädchen staatliche Schulen besuchen. Nachmittags
verhält es sich genau anders herum, wobei sich auch einige männliche Gäste
unter die Frauen – und Joey und mich – mischen.
Ich muss mir immer wieder vor Augen halten, aus welch
schwierigen Verhältnissen die Kinder stammen. Sie wachsen inmitten von Dreck,
Lärm und Gewalt auf. Das mindert keinesfalls ihre Begeisterungsfähigkeit und
ihren Lerneifer. Obwohl der Unterricht meiner Kolleginnen meiner Meinung nach
todlangweilig ist, folgen sie ihm mehr oder weniger bereitwillig –
vorausgesetzt, es betritt nicht gerade ein interessanter, hellhäutiger
Freiwilliger aus Cloppenburg den Raum. Der wird nämlich sofort belagert und
nach seinem Namen gefragt. Das Problem: Die Kinder im Grundschulalter können
kaum Englisch, ihre Kenntnisse beschränken sich meistens auf ein einfaches „My
name is…“. Um nun also meinen Namen zu erfahren, zeigen sie ganz einfach auf
mich und sagen diesen Standard-Satz. Die Kurzform „Benny“ reicht absolut aus,
um ihren Zungen einige ungewöhnliche Varianten zu entlocken. Doch ich will mich
nicht beschweren, Joey hat es da viel schwerer. So bin ich jetzt also „Benny
Sir“. Und „Benny Sir“ oder sein deutscher Kollege werden immer gerufen, sobald
sich zwei Schüler prügeln, was am Vormittag relativ häufig vorkommt. Es ist
schon fast Alltag, so wie die Gewalt im Slum an sich. Die Lehrerinnen haben
längst resigniert, scheint es, jedenfalls winken sie nur müde ab. Einmal konnte
Joey gerade so verhindern, dass ein Schüler mit einem Stein auf den anderen
losging. Aber in der Regel laufen die Prügeleien dann doch eher harmlos ab. Die
Kinder haben ja eigentlich auch ganz andere Talente: Sie sind die Nachkömmlinge
traditioneller Künstler aus Rajasthan, einem Bundesstaat in der Nähe von Delhi.
Deshalb bietet die Schule auch jede Menge künstlerische Aktivitäten an, vom
Musizieren über den traditionellen Tanz hin zum Puppenspiel. Beim „Face Painting“,
dem Gesichter-Anmalen, habe ich mich gleich als künstlerische Niete entpuppt.
Besser also, dass ich mich voraussichtlich eher auf
sportliche und sprachliche Schwerpunkte konzentrieren werde und weniger auf die
malende Kunst. Was genau ich machen werde, muss ich erst noch mit der
Schulleitung besprechen.
Zeit habe ich ja jetzt: Seit Freitag vor einer Woche (21.9.)
bin ich offiziell in Indien registriert, d. h. ich darf für ein Jahr hier
bleiben. Hinter mir lag an diesem Tag allerdings
ein nervenaufreibender Marathon durch die indische Bürokratie. Einzelheiten
erspare ich euch, genauso wie von meiner Krankheit. Die setzte am Abend ein,
pünktlich nach einer Woche Delhi hatte ich über 39 Grad Fieber am
Samstagmorgen. Um es kurz zu halten: Ich ging zum Arzt und der sollte mir in
den nächsten Tagen immer wieder haufenweise Tabletten mitgeben. Irgendwann habe
ich es dann gelassen, drei Paracetamol-Tabletten am Tag zu schlucken. Das
Fieber ließ mir nichts anderes übrig, als die Tage im komatösen Zustand im Bett
zu verbringen. Am Donnerstag war es dann plötzlich weg. Dafür kam etwas
anderes: ein „feinfleckiger Ausschlag“, wie es im Internet heißt, typisch für
Dengue-Fieber. Sahil, unser Mitbewohner, war bereits mit dieser für mich neuen
Krankheit ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ich beriet mich mit meinem
zweiten Ich Joey und kam zu dem Schluss, am Freitag besser zum Arzt zu gehen –
dieses Mal aber zu einem mit Kompetenz! Unsere Koordinatorin und
Ansprechpartnerin in Delhi, Rita Roy, empfahl mir ein Krankenhaus, in das in
ernsteren Fällen alle Freiwilligen gingen. Ein Glücksfall für mich!
Das Krankenhaus war extrem auf westliche Bedürfnisse
angepasst, sodass es mir gar nicht so viel ausmachte, dass ich drei Nächte dort
verbringen musste. Ich fühlte mich allerdings schon ziemlich gesund, das war
der einzige Haken an der Sache. So wurden die Tage ziemlich lang, zumal ich am
Fernsehapparat nichts verstellen konnte. Resultat: Wenn ich fernsah, dann sah
ich den Sender „Movies Now“. Englischsprachige Filme – immerhin kein Bollywood,
und „Harry Potter“ war auch dabei! Na also, so ließ es sich doch leben. Dazu
typisch westliches Essen mit einem Frühstücksei! Ich kam mir vor wie im siebten
Himmel! Ich mag das indische Essen wirklich sehr, aber in dieser Situation war
ich doch dankbar für ein Stückchen „Heimat“. Das vermittelte mir auch das
Badezimmer, im Vergleich zu dem Verschlag bei uns zu Hause ein „Fünf-Sterne-WC“.
Viel mehr gibt es vom Wochenende im Krankenhaus auch nicht zu
berichten. Da war noch der Aufmarsch der Ärzte, dem ich ganze drei Mal
beiwohnen durfte. Immer am frühen Nachmittag – mit Ausnahme des Sonntags –
klopfte es an der Tür. Der Chefarzt kam rein, um mit mir Rücksprache zu halten
bezüglich meines Gesundheitszustandes. Nicht der Rede wert, auf den ersten
Blick. Auf den zweiten Blick kamen nämlich bis zu fünf weitere Personen ins
Krankenzimmer. Zwei weitere Ärzte und Pflegepersonal. Letztendlich sprach ich
maximal fünf Minuten mit dem Chefarzt, bevor die schweigsame Kolonne wieder
auszog. 2500 Rupien nahm der Chefarzt übrigens pro Besuch, das entspricht etwa
40 Euro. Woher ich das weiß? Gleich zu Beginn meines „Kurzurlaubs“ bekam ich
eine Preisliste ausgehändigt, was mich veranlasste, sofort mit meiner
Versicherung in Kontakt zu treten. Die musste am Montagnachmittag erst die
Zahlung in die Wege leiten, ehe ich gehen durfte. Das hat mich mindestens zwei
weitere Stunden im Krankenhaus gekostet. So ticken sie halt, die Uhren der
indischen Bürokratie!
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