Dienstag, 16. Oktober 2012

Mehr als nur ein Feuerwehrmann?

Erst wenn man Sport macht, merkt man eigentlich, wie gut er dem Körper tut. Zwei Monate lang bin ich problemlos ohne Sport ausgekommen. Doch heute, nach zwei Trainings-Einheiten Laufen, fühle ich mich gleich viel besser. Nachdem ich gestern den naheliegenden Park unsicher gemacht habe, bin ich heute mit der Metro 15 Minuten zu einem Sportkomplex gefahren. Als „Inder“ zahlt man 56 Rupien Eintritt (70 Rupien entsprechen 1 Euro). Da ich für ein Jahr registriert bin, zähle sogar ich als „Inder“. Innerhalb des Komplexes kann man etliche Spielfelder nutzen für verschiedenste Sportarten. Sogar Fußball wird gespielt, allerdings als Einstiegskurs, für den ich mich dann doch nicht anmelden wollte. Deshalb nutzte ich den 800-Meter langen Joggingtrack, auf dem ich mit Biegen und Brechen 10 Runden in 40 Minuten absolvierte. Für den zweiten Trainingstag war ich mehr als zufrieden.

Nebenbei verschafft mir das Laufen die nötige Entspannung vom stressigen Schulalltag. Vormittags und teilweise auch nachmittags hole ich Schüler aus dem regulären Unterricht, um sie zu unterrichten. Als Obergrenze wurden zehn Schüler festgelegt. Und zehn – das sind mehr als genug. Selbst mit den älteren Schülern (etwa 12 bis 14 Jahre alt) ist die Kommunikation schwierig. Immerhin haben sie schon ansatzweise Benehmen, weshalb der Unterricht meistens halbwegs durchführbar ist. Durchführbar, aber längst nicht problemfrei. Die Klasseneinteilung folgt keinem klaren Muster. Lediglich ansatzweise ist eine Einteilung nach dem Alter zu erkennen. Somit finden sich in quasi jeder Klasse unterschiedlich leistungsstarke Schüler. Das gibt es in der Tat auch in Deutschland – doch längst nicht in so krasser Form: Bei mir im Förderunterricht sitzen Analphabeten neben guten Schülern. Da bleibt automatisch jemand auf der Strecke, leider muss ich mich aus naheliegenden Gründen der Mehrheit anpassen. Die anderen Schüler malen dann meine Buchstaben oder Zahlen ab, wie sie es auch im Regelunterricht tun. Entweder lernen die Schüler dort stumpf englische Vokabeln auswendig oder – noch besser – geographische Daten Großbritanniens. Als Kommentar genügt ein Zitat einer meiner Kolleginnen: „Sie wissen nicht einmal, wo Indien liegt, und lernen Daten über Großbritannien.“ Vielleicht kann unsere Arbeit tatsächlich einen Sinn haben; wir sind auch schon dabei, uns etwas Hindi anzueignen.

Die 6- bis maximal 9-jährigen Schüler verstehen mich trotzdem nicht. Der Horror hat einen Namen: Sarvjeet’s Class. In unserer Beobachtungszeit unsere Lieblingsklasse, weil die Schüler niedlich waren, endete die erste Stunde mit ihnen am letzten Dienstag beinahe im Worst-Case-Szenario. In der Bibliothek wollte ich mit ihnen schön nach deutscher Tradition Namensschilder basteln. Die Sache hatte mehrere Haken. Nach 20 Minuten saß die wilde Horde erstmals für ca. zehn Sekunden. Vorher war sie auf die Schränke geklettert und hatte Bücher und Spiele herausgerissen. Kann man das nicht verhindern? Nein, kann man nicht, wenn gleichzeitig eine Massenprügelei angezettelt wird, aus der ein heulender Nikhil (ein süßer, quirliger Bengel) hervorgeht, der mit aller Macht aus der Klasse stürmt. Bis er wieder kam, war er mein zweiter Abgang; den ersten hatte ich nach etwas zwei Minuten zu verzeichnen. Er verschwand irgendwo im Slum oder auf dem Schulhof. Hinzu kam, dass jeder, der nach draußen ging, mindestens zwei weitere Schüler mit sich zog, die ich wieder einfangen musste. Ich hatte im Stile eines Feuerwehrmannes mehrere Brandherde gleichzeitig zu löschen, die kurz danach wieder aufflammten. Nach einer halben Stunde gab ich mich geschlagen und ließ die Jungs Lego und andere Dinge spielen. So hatte ich wenigstens relative Ruhe und konnte mit zweien vorsichtig Ball spielen. Das brach ich erst ab, als einer den Ventilator anschoss. Der Knall ist mir noch heute in den Ohren. Genauso erinnere ich mich an die Angst, dass eine Lehrkraft hineinkommt und das Spektakel live sieht. Ich glaube nicht, dass alle mich nur ausgelacht hätten wie Joey. Die Lehrerin selber kam exakt am Ende meines zehnminütigen Aufräumens in die Bibliothek. Ich atmete auf. Als Konsequenz bekommen wir jetzt nur noch etwa fünf Schüler, die wir zumindest davon abhalten können, Schaden anzurichten. Djaskan, einer der wenigen lieben Jungs, der mir letztens ein Abschiedsküsschen auf die Wange gegeben hat, ist nicht dabei. Kein Wunder, den würde ich auch nicht aus meinem Unterricht schicken. Von den fünf Jungs, die ich heute hatten, haben drei halbwegs mitgemacht, während ich einen schnell in die Klasse zurückgeschickt habe. Der fünfte machte keine Anstalten, dass Alphabet mit Bildern zu lernen, sondern nervte mich mit seinem „Belly, Belly“-Gesang. Belly? Das bin ich. Ich konnte ihm nicht mal meinen Namen beibringen!

Die geläufigere Anrede im Unterricht ist allerdings „Sir dschi“ – „dschi“ als besondere Höflichkeitsform. Dabei ist mir ein wenig Respekt und Benehmen vonseiten der Schüler doch  viel wichtiger als diese ehrenhafte Anrede!

Abgesehen vom Schreckgespenst „Sarvjeet’s Class“ bekomme ich dennoch langsam eine Idee, wie ich das Jahr sinnvoll nutzen kann. Vor allem mit den älteren Jungs, die nachmittags kommen, ist guter Unterricht möglich. Neben Englisch bringe ich ihnen auch Gitarre bei, mache eventuell mit ihnen Sport und werde vielleicht das ein oder andere Projekt starten. Wenn alles nach Plan läuft, könnt ihr daran sogar etwas teilhaben.

Den jüngeren Schülern sollen wir „Living Values“ beibringen, wurde uns gesagt. Die  „Living Values“ wie „Peace“ und „Respect“ sind in einem wirklich guten Buch zusammengefasst. Schön in der Theorie. Aber wie soll ich in der Praxis über solche Wert sprechen, mit Schülern, die vielleicht gerade ihren Namen schreiben können?

Wie ihr seht, liegt einiges im Argen. Und auch wenn wir das Mauerproblem nicht lösen können, wie ihr im korrigierten letzten Blogeintrag lest, haben wir genügend andere Baustellen zu bearbeiten. Wir selber sind es, die unserer Arbeit einen Nutzen geben müssen. Mein Wunsch ist, dass man sich auch nach meinem Aufenthalt noch an „Benny Sir“ erinnern wird – und ich mehr bin als nur ein Feuerwehrmann!

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