Mehr als nur ein Feuerwehrmann?
Erst wenn man Sport macht, merkt man
eigentlich, wie gut er dem Körper tut. Zwei Monate lang bin ich problemlos ohne
Sport ausgekommen. Doch heute, nach zwei Trainings-Einheiten Laufen, fühle ich
mich gleich viel besser. Nachdem ich gestern den naheliegenden Park unsicher
gemacht habe, bin ich heute mit der Metro 15 Minuten zu einem Sportkomplex
gefahren. Als „Inder“ zahlt man 56 Rupien Eintritt (70 Rupien entsprechen 1
Euro). Da ich für ein Jahr registriert bin, zähle sogar ich als „Inder“.
Innerhalb des Komplexes kann man etliche Spielfelder nutzen für verschiedenste
Sportarten. Sogar Fußball wird gespielt, allerdings als Einstiegskurs, für den
ich mich dann doch nicht anmelden wollte. Deshalb nutzte ich den 800-Meter
langen Joggingtrack, auf dem ich mit Biegen und Brechen 10 Runden in 40 Minuten
absolvierte. Für den zweiten Trainingstag war ich mehr als zufrieden.
Nebenbei verschafft mir das
Laufen die nötige Entspannung vom stressigen Schulalltag. Vormittags und
teilweise auch nachmittags hole ich Schüler aus dem regulären Unterricht, um
sie zu unterrichten. Als Obergrenze wurden zehn Schüler festgelegt. Und zehn –
das sind mehr als genug. Selbst mit den älteren Schülern (etwa 12 bis 14 Jahre
alt) ist die Kommunikation schwierig. Immerhin haben sie schon ansatzweise
Benehmen, weshalb der Unterricht meistens halbwegs durchführbar ist. Durchführbar,
aber längst nicht problemfrei. Die Klasseneinteilung folgt keinem klaren Muster. Lediglich ansatzweise ist eine Einteilung nach dem Alter zu
erkennen. Somit finden sich in quasi jeder Klasse unterschiedlich
leistungsstarke Schüler. Das gibt es in der Tat auch in Deutschland – doch längst
nicht in so krasser Form: Bei mir im Förderunterricht sitzen Analphabeten neben
guten Schülern. Da bleibt automatisch jemand auf der Strecke, leider muss ich
mich aus naheliegenden Gründen der Mehrheit anpassen. Die anderen Schüler malen
dann meine Buchstaben oder Zahlen ab, wie sie es auch im Regelunterricht tun. Entweder lernen die Schüler dort stumpf
englische Vokabeln auswendig oder – noch besser – geographische Daten Großbritanniens.
Als Kommentar genügt ein Zitat einer meiner Kolleginnen: „Sie wissen
nicht einmal, wo Indien liegt, und lernen Daten über Großbritannien.“ Vielleicht kann unsere Arbeit tatsächlich einen Sinn haben; wir sind auch schon dabei, uns etwas Hindi
anzueignen.
Die 6- bis maximal 9-jährigen
Schüler verstehen mich trotzdem nicht. Der Horror hat einen Namen: Sarvjeet’s Class.
In unserer Beobachtungszeit unsere Lieblingsklasse, weil die Schüler niedlich
waren, endete die erste Stunde mit ihnen am letzten Dienstag beinahe im
Worst-Case-Szenario. In der Bibliothek wollte ich mit ihnen schön nach
deutscher Tradition Namensschilder basteln. Die Sache hatte mehrere
Haken. Nach 20 Minuten saß die wilde Horde erstmals für ca. zehn Sekunden. Vorher
war sie auf die Schränke geklettert und hatte Bücher und Spiele herausgerissen.
Kann man das nicht verhindern? Nein, kann man nicht, wenn gleichzeitig eine
Massenprügelei angezettelt wird, aus der ein heulender Nikhil (ein süßer,
quirliger Bengel) hervorgeht, der mit aller Macht aus der Klasse stürmt. Bis er
wieder kam, war er mein zweiter Abgang; den ersten hatte ich nach etwas zwei
Minuten zu verzeichnen. Er verschwand irgendwo im Slum oder auf dem Schulhof.
Hinzu kam, dass jeder, der nach draußen ging, mindestens zwei weitere Schüler
mit sich zog, die ich wieder einfangen musste. Ich hatte im Stile eines
Feuerwehrmannes mehrere Brandherde gleichzeitig zu löschen, die kurz danach
wieder aufflammten. Nach einer halben Stunde gab ich mich geschlagen und ließ
die Jungs Lego und andere Dinge spielen. So hatte ich wenigstens relative Ruhe
und konnte mit zweien vorsichtig Ball spielen. Das brach ich erst ab, als einer
den Ventilator anschoss. Der Knall ist mir noch heute in den Ohren. Genauso
erinnere ich mich an die Angst, dass eine Lehrkraft hineinkommt und das
Spektakel live sieht. Ich glaube nicht, dass alle mich nur ausgelacht hätten
wie Joey. Die Lehrerin selber kam exakt am Ende meines zehnminütigen Aufräumens in
die Bibliothek. Ich atmete auf. Als Konsequenz bekommen wir jetzt nur noch
etwa fünf Schüler, die wir zumindest davon abhalten können, Schaden
anzurichten. Djaskan, einer der wenigen lieben Jungs, der mir letztens ein
Abschiedsküsschen auf die Wange gegeben hat, ist nicht dabei. Kein Wunder, den
würde ich auch nicht aus meinem Unterricht schicken. Von den fünf Jungs, die
ich heute hatten, haben drei halbwegs mitgemacht, während ich einen schnell in
die Klasse zurückgeschickt habe. Der fünfte machte keine Anstalten, dass
Alphabet mit Bildern zu lernen, sondern nervte mich mit seinem „Belly, Belly“-Gesang.
Belly? Das bin ich. Ich konnte ihm nicht mal meinen Namen beibringen!
Die geläufigere Anrede im
Unterricht ist allerdings „Sir dschi“ – „dschi“ als besondere Höflichkeitsform.
Dabei ist mir ein wenig Respekt und Benehmen vonseiten der Schüler doch viel wichtiger als diese ehrenhafte Anrede!
Abgesehen vom Schreckgespenst „Sarvjeet’s
Class“ bekomme ich dennoch langsam eine Idee, wie ich das Jahr sinnvoll nutzen
kann. Vor allem mit den älteren Jungs, die nachmittags kommen, ist guter
Unterricht möglich. Neben Englisch bringe ich ihnen auch Gitarre bei, mache
eventuell mit ihnen Sport und werde vielleicht das ein oder andere Projekt
starten. Wenn alles nach Plan läuft, könnt ihr daran sogar etwas teilhaben.
Den jüngeren Schülern sollen wir „Living
Values“ beibringen, wurde uns gesagt. Die „Living
Values“ wie „Peace“ und „Respect“ sind in einem wirklich guten Buch
zusammengefasst. Schön in der Theorie. Aber wie soll ich in der Praxis über
solche Wert sprechen, mit Schülern, die vielleicht gerade ihren Namen schreiben
können?
Wie ihr seht, liegt einiges im
Argen. Und auch wenn wir das Mauerproblem nicht lösen können, wie ihr im
korrigierten letzten Blogeintrag lest, haben wir genügend andere Baustellen zu
bearbeiten. Wir selber sind es, die unserer Arbeit einen Nutzen geben müssen.
Mein Wunsch ist, dass man sich auch nach meinem Aufenthalt noch an „Benny Sir“
erinnern wird – und ich mehr bin als nur ein Feuerwehrmann!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen