Grenzgänger auf verschiedenem Terrain
Ein Europa ohne Grenzen – bisher
ist das wohl immer noch mehr eine Vision als die Realität. Dennoch ist wohl
jede Grenze in Europa nichts gegen die Grenze, die ich bei meinem Trip nach
Amritsar kennenlernte. Es ging an diesem Wochenende bei näherer Betrachtung
generell viel um Grenzen und Grenzenlosigkeit.
Los Richtung Nordwesten ging es
um 20.15 Uhr am Freitagabend, zusammen mit den Mitfreiwilligen Tine und Liane
sowie Arne, der zurzeit zu Besuch bei einem anderen Freiwilligen in Delhi ist.
Im Sleeper-Wagen erwartete uns eine unruhige Nacht. Dafür war das Ticket günstig,
die Hin- und Rückfahrt kostete pro Kopf etwas mehr als sechs Euro. Dass der Zug
für die knapp 500 Kilometer pro Strecke zwölf Stunden brauchen würde, erschien
uns zunächst unverständlich. Wenn man allerdings das letztendliche
Durchschnitts-Tempo und die Haltezeit an vielen kleinen Bahnhöfen in Betracht
zieht, erklärt sich die Fahrtzeit von selbst. Dass am Bahnhof ein Plakat die
indische Bahn als „Stolz der Nation“ (man stelle sich das einmal bei der
Deutschen Bahn vor) adelt, mutet da ein bisschen merkwürdig an, auch wenn unser
Abteil für den Preis in Ordnung war. Wir hatten jeder eine relativ unbequeme
Liege und kein abgetrenntes Abteil, was uns aber nur gelegentlich Gaffern
ausgesetzt hat. Anstrengender waren da vor allem auf der Hinfahrt die
schnarchenden Mitfahrer.
Am Bahnhof in New Delhi - Nizzamuddin
Kurz vor Amritsar. Aufnahme aus dem fahrenden Zug
Amritsar ist ein lohnendes
Reiseziel, obwohl es nur zwei Highlights bietet.
Die Grenzenlosigkeit des
Sikhismus bekamen wir am Goldenen Tempel, dem Heiligtum dieser Religionsgemeinschaft
zu spüren. Das in Gold erstrahlende Gotteshaus wird von einem See, dem
„heiligen Wasser“ umgeben, an dessen Ufer man die Anlage einmal umrunden kann.
Jeder Mensch ist hier willkommen, vorausgesetzt er läuft barfuß und bedeckt
seinen Kopf, es gibt also keine Abgrenzung.
Trotz der Vielzahl der Besucher
und Betenden ist es hier außerdem angenehm ruhig.
Der Goldene Tempel umgeben vom Heiligen Wasser.
Das Strahlen des Tempels steckte auch Liane an.
Bootstour auf dem "Heiligen Wasser".
Im Hintergrund ein Eingangstor zum Tempelbereich
Laut wird es dagegen beim Abwasch
der größten Gratisküche der Welt. Jeder ist eingeladen, auf dem Boden des
Speisesaals eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Wer kann, wird am Ausgang um eine
Spende gebeten. Und selbstverständlich darf auch jeder mithelfen, ob beim
Gemüse schneiden oder Abspülen. Tine und ich haben uns am Sonntag für das
Erbsenpulen entschieden und dabei interessante Bekanntschaften gemacht. So
wurde ich etwa von einer Gleichaltrigen nach meiner Kaste gefragt – so viel
vorerst zur offiziellen Abschaffung des Kastenwesens – und dann verwundert
angeschaut, als ich antwortete, ich habe keine Kaste.
Das schmutzige Geschirr aus Stahl wurde zum
Abwasch geworfen
Untergekommen sind wir ebenfalls
in unmittelbarer Nähe zum Tempel, in der kostenlosen Backpacker-Unterkunft für
Ausländer, bei der auch nur um eine Spende gebeten wird. Eine kleine Grenze
zeigt sich hier schon, schließlich schliefen die indischen Pilger massenweise
auf dem Platz in der Mitte, was uns auch nicht gestört hätte.
Schlafsaal der indischen Pilger
Der Besuch des Goldenen Tempels
war der besinnliche Teil und das eigentliche Ziel unserer Reise. Dennoch: Wer
in Amritsar zu Besuch ist, für den ist die tägliche Grenzschließungszeremonie
an der 30 km entfernt liegenden pakistanischen Grenze ein Muss. Zwar wird sehr
viel Wind um einen an Lächerlichkeit grenzenden Hahnenkampf gemacht, aber
imposant ist der Übergang von Indien nach Pakistan allemal.
Stacheldraht trennt die beiden
verfeindeten Staaten, die sich seit der Unabhängigkeit von Großbritannien unter
anderem um den Landesteil Kaschmir streiten. Im Moment ist es kein bewaffneter
Konflikt, und wie das „Sunday Tribune“ berichtet, wurden ausgerechnet in
letzter Zeit einige Abkommen, wie etwa zur Vereinfachung des Grenzverkehrs, geschlossen.
Da mutet die Zeremonie gleich noch ein bisschen mehr wie ein aus der Zeit
gefallenes Event an.
Hochgesicherter Grenzbereich
Massenweise strömten die Inder
auf die Besuchertribünen, und auch die pakistanische Seite ließ sich nicht lumpen.
Nach Angaben unseres Fahrers wohnten am Sonnabend gut 30000 Zuschauer dem
Spektakel bei, in Wirklichkeit waren es geschätzt etwa 10000. Als Ausländer
bekamen wir spezielle Plätze direkt am Straßenrand, von denen die Aussicht
allerdings nicht wirklich besonders war. Was ich sah, zauberte mir aber
zumindest ein amüsiertes Lächeln auf die Lippen.
Die indische Seite, repräsentiert durch den
Nationalhelden Mahatma Gandhi
Etwas weiter entfernt die Pakistaner. Wer weiß,
wer porträtiert ist? Ich weiß es nicht
Die Soldaten beider Staaten
trugen eine Kopfbedeckung, die von einem Hahnenkamm nicht weit entfernt war. In
aberwitziger Manier marschierten sie eine gute Viertelstunde lang in Richtung
Grenztor, wobei sich der ein oder andere fast seinen Kamm mit dem Fuß vom Kopf
schlug.
Impressionen von der Parade
Unterdessen brachte ein Animateur
im weißen Indien-Trainingsanzug die eine Seite des Tores in Stimmung. Im
Wechsel mit ihm brüllten die Zuschauer den Schlachtruf „Lang lebe Hindustan“. Doch
auch die Pakistaner waren keinesfalls ruhig, was nichts daran änderte, dass die
ganze Prozedur völlig überzogen war angesichts ihres Zieles: Am Ende wurden die
Fahnen eingezogen und die Grenze gegen 17 Uhr geschlossen, um am nächsten
Morgen um 9 Uhr wieder zu öffnen.
Die Flaggen werden eingeholt
Dann ist das Grenztor geschlossen
Das war auch zwingend notwendig,
denn auf der indischen Seite warteten handgezählt über 500 Lastwagen darauf,
den Übergang zu passieren.
Die Lastwagenkolonne, aufgenommen durch die
Windschutzscheibe
Laut Informationen unseres Fahrers werden täglich
215 Fahrzeuge abgefertigt. Es wären sicherlich ein wenig mehr, wenn man dieses
etwas altertümliche Szenario vor Sonnenuntergang sein ließe. Schließlich –
dieser Eindruck bleibt – dient es nicht zuletzt der Radikalisierung der
Zuschauer.
Wir waren genauso radikal oder
eben nicht radikal wie zuvor, als wir nach erneuten zwölf Stunden Delhi am
Montagmorgen gegen 4 Uhr erreichten. Auf dem Weg aus dem Bundesstaat Punjab
nach Delhi waren wir durch UP West gereist und hatten somit noch zwei
unsichtbare Grenzen passiert.
Nach diesem Wochenende als vielfacher
Grenzgänger bleibt mir vor allem eine Erkenntnis: Am liebsten ist mir immer
noch die Grenzenlosigkeit des Sikhismus.
Ein letzter Panorama-Blick über den Tempelbereich
Unsere Reisegruppe ein letztes Mal vor dem Tempel