Sonntag, 31. März 2013

Warmer Winter im kalten Delhi


Lange hat es gedauert, bis ich endlich dieses Video in Deutschland hochladen lassen konnte. Schaut einfach mal hinein. Auch an dieser Stelle noch einmal ein großes DANKESCHÖN an alle SpenderInnen! Es sind noch mehr geworden. Die neuen Spenden muss ich allerdings erst einmal sinnvoll investieren, dazu dann spätestens nach meiner Rückkehr nach Deutschland auch ein offizielles „Danke“.





Mein hier im Blog schon vorher beschriebenes Erlebnis mit dem Straßenkind habe ich auch als Leserartikel auf ZEITonline veröffentlicht (http://www.zeit.de/gesellschaft/2013-03/leserartikel-delhi-bettler). Interessant finde ich vor allem die unten stehenden Kommentare der ganzen Moralisten, die mir Ratschläge geben, was ich tun kann, um die Situation im Land zu verbessern. Natürlich hätte ich angeben können, was ich eigentlich in Delhi mache. Das hätte vielleicht einige Unklarheiten von vornherein ausgeschlossen.
Obwohl nirgendwo steht, warum ich eigentlich in Indien lebe, scheine ich für viele Kommentatoren nichts Soziales zu tun, nur weil ich es nicht erwähne.
Ich habe weder den Blogeintrag noch den Leserartikel geschrieben, weil ich Mitleid haben möchte. Ich wollte lediglich eine Erfahrung teilen, die ein Großteil der Kommentatoren nie gemacht hat. Für die lässt es sich leicht urteilen.
Hätte ich geschrieben, dass ich in einer Schule für Kinder aus einem Slum arbeite, wären die Reaktionen wahrscheinlich ganz anders ausgefallen.
Vielleicht bringt die Arbeit, die ich mache, mehr als eine kleine Spende. Ich bin jedoch nicht so vermessen, zu glauben, dass mein Freiwilligendienst Wunder bewirkt. Sicherlich beschert er den Kindern und mir in der Schule eine schöne Zeit, aber zu glauben, dass er dazu beiträgt, sie langfristig aus ihrer Armut zu holen, ist in den meisten Fällen naiv und wenig zielführend. Vielleicht gelingt es später mal einem meiner heutigen Schüler, doch warum sollte ausgerechnet ich einen Anteil daran haben? Und wenn, dann ist er höchstens sehr gering.
Dennoch mache ich Erfahrungen wie diese. Sollte ich später einmal in der Rolle des Kommentators sein, speist sich meine Meinung aus solchen Erlebnissen. Sie ist zwar immer noch subjektiv und extrem beschränkt. Aber immerhin habe ich sie mir nicht (nur) aus Büchern, dem Internet und aus Filmen gebildet.

Sonntag, 17. März 2013

Mit kontrollierter Offensive die Führung verteidigen


Die zweite Halbzeit läuft, aber sie ist noch jung. Nachdem Zwischenseminar, meiner ganz persönlichen Halbzeitpause, habe ich die längste Zeit in Delhi hinter mir. Fünf Monate und genau eine Woche bleiben, ehe ich in Düsseldorf wieder deutschen Boden betrete.
Die erste Halbzeit war gut, ich liege in Führung. Mein Gegner – das ist die Spielvereinigung aus Heimweh, Krankheit, allgemeiner Unzufriedenheit und schlechten Erfahrungen – konnte einige Nadelstiche setzen, mehr aber auch nicht. Nur in der Anfangsphase war meine Verteidigung etwas ungeordnet, von Minute zu Minute hat sie sich stabilisiert. Die Halbzeitpause hat mir die Möglichkeit gegeben, noch einmal zurückzublicken und die ersten Monate Revue passieren zu lassen.
Als ich vor knapp einem Jahr die Zusage für Indien bekam, wurde es konkret. Ganz konkret ungewiss. Was würde mich erwarten? Würde ich ein Jahr lang durchhalten, soweit weg von der Heimat, von Familie und Freunden?
Die erste Woche fällt aus der Wertung, dafür hatte ich zu viele Eindrücke zu verarbeiten. Meine Gefühle und Gedanken fuhren Achterbahn, allein das ist in meinem Gedächtnis hängen geblieben. Die zweite Woche ließ zum bisher einzigen Mal echte Zweifel aufkommen, was dem Dengue-Fieber geschuldet war. Meine Verteidigung wankte und ließ den einen oder anderen Hochkaräter der gegnerischen Mannschaft zu. Es konnte nur besser werden.
Und das wurde es auch: Von Tag zu Tag habe ich mich mehr an das Leben hier gewöhnt, an den Lärm, die Fülle an Menschen und kulturelle Unterschiede. In der Arbeit kam ich mir am Anfang etwas nutzlos vor und wusste nicht so recht, was ich machen sollte. Mittlerweile hat sich das zum Glück geändert. Meine Hindi-Kenntnisse sind zwar immer noch nur geringfügig besser als die Englischkenntnisse meiner Schüler, aber mit der Zeit habe ich Methoden entwickelt, halbwegs sinnvolle Themen zu unterrichten. Vielleicht bleibt bei manch einem Schüler ja sogar dauerhaft etwas hängen.
Wie der Unterricht abläuft, hängt aber auch immer von den verschiedenen Schülern sowie deren und meiner Tagesform ab. Letzte Woche habe ich den Schülern die Geographie Indiens etwas näher gebracht. Sie sollten eine Karte beschriften und anschließend verschiedene Teile ausmalen, dazu an den Rand den Satz „I love Pakistan“ schreiben… Nein Spaß, so revolutionär will ich dann doch nicht sein. Sie haben lediglich die indische Flagge gemalt. Und während einige Schüler verstanden haben, dass sie Delhi, Mumbai und den Bundesstaat Rajasthan von der aufgehängten politischen Karte auf ihr Papier übertragen sollten, fiel der Groschen bei anderen gar nicht oder sehr spät. Richtig glücklich war ich, als ein Schüler einmal eine ganz eigenständige Idee umgesetzt hat – eine Rarität, die wohl nicht zuletzt dem Bildungssystem geschuldet ist.  Ohne mich vorher zu fragen, malte er das indische Staatsgebiet in den Farben der Flagge aus – ich war begeistert!
Doch abgesehen vom Unterricht, in dem mir die Kinder hin und wieder immer noch auf die Nerven gehen, habe ich sie richtig lieb gewonnen. Und sie geben mir gelegentlich sogar Tipps: Gautam, einer der schlimmsten Prügler, der aber eigentlich ein ganz lieber Junge ist, hat mir zum Beispiel über mein Gesicht gestrichen, um festzustellen, dass ich mich doch mal wieder Rasieren müsse. Und wenn ich zusammen mit den Puppenspielern meine ganz persönliche Holzpuppe bastle, können sie immer gar nicht nachvollziehen, warum ich mir von ihnen nicht helfen lassen will.
Abgesehen vom Schulalltag, der nach der Halbzeitpause so richtig gut angelaufen ist, läuft auch sonst alles nach Plan. Oder doch nicht? Eigentlich hatte ich weder für die erste  Halbzeit eine lehrbuchmäßige Taktik noch habe ich eine für die zweite. Selbst die Initiative zu ergreifen, ohne etwas zu überstürzen, lautet meine Devise. Immer Vorsicht walten lassen, und doch so aktiv sein, dass ich das Spiel vom eigenen Tor fernhalte.

Ich fühle mich in Delhi mittlerweile schon wie zu Hause. Eine Art zweites Zuhause, fern der Heimat. Meine Heimat wird es nie werden, mein Zuhause ist es jedoch schon. Ich habe viele tolle Menschen kennengelernt und einige wenige nicht so tolle. Ich habe viele tolle Erlebnisse gehabt und einige wenige nicht so tolle. Der positive Eindruck überwiegt.
Und trotzdem – obwohl es zurzeit mein Zuhause ist - kann ich mir nicht vorstellen, für längere Zeit in Delhi zu leben. Ein Freiwilliger aus Kirgistan hat mich das gefragt, allerdings in Bezug auf ganz Indien. Für mich ist klar: Ich kann mir vorstellen, irgendwann auch mal für länger als ein Jahr im Ausland zu leben. Es gibt so viele spannende Länder, Indien ist eines davon. Doch nach Delhi will ich nicht noch einmal für längere Zeit. Nicht, dass mir die Stadt nicht gefällt. Ich habe sie schon mögen gelernt, vielleicht liebe ich sie am Ende des Jahres ja sogar. An Delhi stört mich einzig und allein der Smog. Den werde ich mir und meiner Lunge nicht noch einmal über einen längeren Zeitraum hinweg antun.
Obwohl ich mich hier – mit dieser einen Ausnahme – also richtig wohl fühle, habe ich anders als andere Freiwillige keine Angst vor der Rückkehr. Vielleicht bin ich etwas naiv, denn viele unserer Vorgänger sagen, der Kulturschock, wenn man zurückkommt, sei viel größer als der, den man bei der Ankunft im Gastland erlebt.
Eine wichtige Rolle bei der „Reintegration“ in Deutschland spielt sicherlich auch die Frage, ob ich mich verändert habe. Bestimmt irgendwie, aber ich merke es selbst nicht. Sicherlich habe ich einige Sicht- und Denkweisen verändert, aber ich glaube und hoffe, dass ich trotzdem noch der Alte bin. Letztendlich müssen das aber andere beurteilen. Ich bin schon gespannt, was meine Familie sagt, die in ein paar Stunden ankommt – die Vorfreude steigt von Minute zu Minute.
Der Besuch kommt passend zum Beginn der zweiten Halbzeit. Nach der Abreise der Familie sind es nicht mal mehr 5 Monate, die mir bleiben. Zeit, die ich nutzen will. Was ist die beste Strategie? Auf Defensive umzustellen, den Gegner kommen zu lassen, um dann blitzartige Konter zu fahren? Eher nicht. Für Konter müsste der Gegner mir erst einmal Räume bieten, doch wenn ich von Heimweh, Krankheiten oder depressiver Stimmung zurückgedrängt bin, kann es schwierig werden.
Dann vielleicht einfach weitermachen wie bisher? Kontrollierte Offensive schwebt mir vor, um im Fußballjargon zu bleiben. Aus einer soliden Deckung heraus überlegte und zielsichere Angriffe zu fahren. Ein Überraschungsmoment, ein bisschen Spontaneität ist da sicherlich nützlich. Nicht alles lässt sich kontrollieren. Aber sollte ich einmal auf einen Gegner auflaufen, ist es wichtig, dass der Gegenangriff sofort abgefangen wird und keine bleibenden Schäden – im Spiel: ein Tor – hinterlässt.
Gelingt mir das weiterhin, werde ich am 24. August mit einem lachenden und einem weinenden Auge das Flugzeug in Richtung Dubai besteigen.


Montag, 11. März 2013


Prinzip oder Menschlichkeit?


Delhi, Sonntagabend, kurz vor Mitternacht. Ich erlebe den vielleicht schlimmsten Moment meines bisherigen Indien-Aufenthalts.
Der vorletzte Tag des Zwischenseminars zur Halbzeit unseres Freiwilligendienstes neigt sich dem Ende zu. Wir waren mit der gesamten Gruppe Essen und sind erschlagen angesichts der Masse an Brot, Käse, Hühnchen, Reis und Gemüse, die wir verschlungen haben. Am Connaught Place waren ein paar von uns noch in einem Cafè, jetzt sind wir todmüde und wollen einfach nur noch nach Hause. Wir handeln den Preis für die Fahrt mit der Autorikscha aus, sind fast abfahrbereit.
Da kommt ein Straßenjunge ins Bild. Er ist lediglich mit einer Hose bekleidet und trägt einen Sack über seiner Schulter. Beim Einsteigen hat er uns schon angebettelt. Aus seinem Gesicht spricht die pure Verzweiflung, er giert nach einem Bissen Essen. Wir ignorieren ihn, das ist schon fast Routine. Doch er geht nicht weg. Der Rikscha-Fahrer sagt: „Geh!“ Doch der Junge bleibt. Er klammert sich an unsere Rikscha und damit irgendwie an uns, als seien wir seine letzte Hoffnung. Plötzlich fängt eines meiner Grundprinzipien an zu wanken. Das Prinzip, Bettlern kein Geld zu geben. Essen und Trinken schon, wenn ich es dabei habe. Geld nicht. Obwohl an diesem Tag 500 Rupien (etwa 7 Euro) in meiner Tasche liegen, bleibe ich hart. Wie viel erbettelt sich der Junge wohl am Tag? Vielleicht 10 Rupien?
Das rationale Prinzip besiegt das Gefühl in diesem Augenblick. Aber die Sekunden, in denen der Junge uns anfleht, werden zur Ewigkeit. Sie brennen sich in mein Gedächtnis ein. Schaffen eine Mischung aus Zweifeln und Hilflosigkeit. Rücken den ganzen Abend in ein komplett anderes Licht.
Die Rikscha fährt einen Bogen, der Junge kann sich nicht mehr an ihr festhalten. Lässt los.
Wir lassen ihn zurück, allein mit sich selbst. Und mit dem Hunger.


Linktipp: http://www.nwzonline.de/cloppenburg/wirtschaft/smog-haelt-sich-wie-unter-einer-glocke_a_2,0,2231865024.html