Mit kontrollierter Offensive die Führung verteidigen
Die zweite Halbzeit läuft, aber
sie ist noch jung. Nachdem Zwischenseminar, meiner ganz persönlichen
Halbzeitpause, habe ich die längste Zeit in Delhi hinter mir. Fünf Monate und
genau eine Woche bleiben, ehe ich in Düsseldorf wieder deutschen Boden betrete.
Die erste Halbzeit war gut, ich
liege in Führung. Mein Gegner – das ist die Spielvereinigung aus Heimweh,
Krankheit, allgemeiner Unzufriedenheit und schlechten Erfahrungen – konnte einige
Nadelstiche setzen, mehr aber auch nicht. Nur in der Anfangsphase war meine
Verteidigung etwas ungeordnet, von Minute zu Minute hat sie sich stabilisiert. Die
Halbzeitpause hat mir die Möglichkeit gegeben, noch einmal zurückzublicken und
die ersten Monate Revue passieren zu lassen.
Als ich vor knapp einem Jahr die
Zusage für Indien bekam, wurde es konkret. Ganz konkret ungewiss. Was würde
mich erwarten? Würde ich ein Jahr lang durchhalten, soweit weg von der Heimat,
von Familie und Freunden?
Die erste Woche fällt aus der
Wertung, dafür hatte ich zu viele Eindrücke zu verarbeiten. Meine Gefühle und
Gedanken fuhren Achterbahn, allein das ist in meinem Gedächtnis hängen
geblieben. Die zweite Woche ließ zum bisher einzigen Mal echte Zweifel
aufkommen, was dem Dengue-Fieber geschuldet war. Meine Verteidigung wankte und
ließ den einen oder anderen Hochkaräter der gegnerischen Mannschaft zu. Es
konnte nur besser werden.
Und das wurde es auch: Von Tag zu
Tag habe ich mich mehr an das Leben hier gewöhnt, an den Lärm, die Fülle an
Menschen und kulturelle Unterschiede. In der Arbeit kam ich mir am Anfang etwas
nutzlos vor und wusste nicht so recht, was ich machen sollte. Mittlerweile hat sich das zum Glück geändert. Meine Hindi-Kenntnisse sind zwar immer noch nur
geringfügig besser als die Englischkenntnisse meiner Schüler, aber mit der Zeit
habe ich Methoden entwickelt, halbwegs sinnvolle Themen zu unterrichten. Vielleicht
bleibt bei manch einem Schüler ja sogar dauerhaft etwas hängen.
Wie der Unterricht abläuft, hängt
aber auch immer von den verschiedenen Schülern sowie deren und meiner Tagesform
ab. Letzte Woche habe ich den Schülern die Geographie Indiens etwas näher
gebracht. Sie sollten eine Karte beschriften und anschließend verschiedene
Teile ausmalen, dazu an den Rand den Satz „I love Pakistan“ schreiben… Nein
Spaß, so revolutionär will ich dann doch nicht sein. Sie haben lediglich die
indische Flagge gemalt. Und während einige Schüler verstanden haben, dass sie
Delhi, Mumbai und den Bundesstaat Rajasthan von der aufgehängten politischen
Karte auf ihr Papier übertragen sollten, fiel der Groschen bei anderen gar
nicht oder sehr spät. Richtig glücklich war ich, als ein Schüler einmal eine
ganz eigenständige Idee umgesetzt hat – eine Rarität, die wohl nicht zuletzt
dem Bildungssystem geschuldet ist. Ohne mich
vorher zu fragen, malte er das indische Staatsgebiet in den Farben der Flagge
aus – ich war begeistert!
Doch abgesehen vom Unterricht, in
dem mir die Kinder hin und wieder immer noch auf die Nerven gehen, habe ich sie
richtig lieb gewonnen. Und sie geben mir gelegentlich sogar Tipps: Gautam, einer
der schlimmsten Prügler, der aber eigentlich ein ganz lieber Junge ist, hat mir
zum Beispiel über mein Gesicht gestrichen, um festzustellen, dass ich mich doch
mal wieder Rasieren müsse. Und wenn ich zusammen mit den Puppenspielern meine
ganz persönliche Holzpuppe bastle, können sie immer gar nicht nachvollziehen,
warum ich mir von ihnen nicht helfen lassen will.
Abgesehen vom Schulalltag, der
nach der Halbzeitpause so richtig gut angelaufen ist, läuft auch sonst alles
nach Plan. Oder doch nicht? Eigentlich hatte ich weder für die erste Halbzeit eine lehrbuchmäßige Taktik noch habe
ich eine für die zweite. Selbst die Initiative zu ergreifen, ohne etwas zu
überstürzen, lautet meine Devise. Immer Vorsicht walten lassen, und doch so
aktiv sein, dass ich das Spiel vom eigenen Tor fernhalte.
Ich fühle mich in Delhi mittlerweile
schon wie zu Hause. Eine Art zweites Zuhause, fern der Heimat. Meine Heimat
wird es nie werden, mein Zuhause ist es jedoch schon. Ich habe viele tolle
Menschen kennengelernt und einige wenige nicht so tolle. Ich habe viele tolle
Erlebnisse gehabt und einige wenige nicht so tolle. Der positive Eindruck
überwiegt.
Und trotzdem – obwohl es zurzeit
mein Zuhause ist - kann ich mir nicht vorstellen, für längere Zeit in Delhi zu
leben. Ein Freiwilliger aus Kirgistan hat mich das gefragt, allerdings in Bezug
auf ganz Indien. Für mich ist klar: Ich kann mir vorstellen, irgendwann auch
mal für länger als ein Jahr im Ausland zu leben. Es gibt so viele spannende
Länder, Indien ist eines davon. Doch nach Delhi will ich nicht noch einmal für
längere Zeit. Nicht, dass mir die Stadt nicht gefällt. Ich habe sie schon mögen
gelernt, vielleicht liebe ich sie am Ende des Jahres ja sogar. An Delhi stört
mich einzig und allein der Smog. Den werde ich mir und meiner Lunge nicht noch
einmal über einen längeren Zeitraum hinweg antun.
Obwohl ich mich hier – mit dieser
einen Ausnahme – also richtig wohl fühle, habe ich anders als andere
Freiwillige keine Angst vor der Rückkehr. Vielleicht bin ich etwas naiv, denn viele
unserer Vorgänger sagen, der Kulturschock, wenn man zurückkommt, sei viel
größer als der, den man bei der Ankunft im Gastland erlebt.
Eine wichtige Rolle bei der „Reintegration“
in Deutschland spielt sicherlich auch die Frage, ob ich mich verändert habe.
Bestimmt irgendwie, aber ich merke es selbst nicht. Sicherlich habe ich einige
Sicht- und Denkweisen verändert, aber ich glaube und hoffe, dass ich trotzdem
noch der Alte bin. Letztendlich müssen das aber andere beurteilen. Ich bin
schon gespannt, was meine Familie sagt, die in ein paar Stunden ankommt – die
Vorfreude steigt von Minute zu Minute.
Der Besuch kommt passend zum
Beginn der zweiten Halbzeit. Nach der Abreise der Familie sind es nicht mal
mehr 5 Monate, die mir bleiben. Zeit, die ich nutzen will. Was ist die beste
Strategie? Auf Defensive umzustellen, den Gegner kommen zu lassen, um dann blitzartige
Konter zu fahren? Eher nicht. Für Konter müsste der Gegner mir erst einmal
Räume bieten, doch wenn ich von Heimweh, Krankheiten oder depressiver Stimmung
zurückgedrängt bin, kann es schwierig werden.
Dann vielleicht einfach
weitermachen wie bisher? Kontrollierte Offensive schwebt mir vor, um im
Fußballjargon zu bleiben. Aus einer soliden Deckung heraus überlegte und
zielsichere Angriffe zu fahren. Ein Überraschungsmoment, ein bisschen
Spontaneität ist da sicherlich nützlich. Nicht alles lässt sich kontrollieren.
Aber sollte ich einmal auf einen Gegner auflaufen, ist es wichtig, dass der
Gegenangriff sofort abgefangen wird und keine bleibenden Schäden – im Spiel:
ein Tor – hinterlässt.
Gelingt mir das weiterhin, werde
ich am 24. August mit einem lachenden und einem weinenden Auge das Flugzeug in
Richtung Dubai besteigen.