Donnerstag, 28. Februar 2013


Die Babys stürmen die Schule


Der Unterricht, er ist und bleibt anstrengend. Denn es ist gar nicht mal so einfach, in die Köpfe der Schüler hineinzuschauen. Da plant man etwas, von dem man denkt, es könnte reichen, um die dreißig Minuten Förderunterricht zu füllen und die Schüler sinnvoll zu beschäftigen. Bei der ersten Klasse scheint es, als sei man erfolgreich gewesen. Und dann kommt das böse Erwachen. Das kommt eigentlich sowieso immer, wenn ich mit den Schülern kein Spiel spiele a là Fußball oder Badminton. Wenn die erste Frage „Sir ji, Game play?“ verneint wurde, ist die Motivation der Schüler in der Regel hinfällig. Da ich aber sowieso fast immer spielerische Elemente einbaue, gelingt es mir manchmal noch, den Unterrichtsinhalt als Spiel zu verkaufen. Doch wer gerade einmal ein paar Sekunden lang nicht beschäftigt ist oder die Lust verloren hat, macht sich auf der Suche nach einer besseren Beschäftigung im Klassenzimmer – und bei fehlenden Alternativen auf den Weg nach draußen.

So geht es bisweilen zu in meinem Unterricht.

Bei der ganzen Anstrengung tut Abwechslung gut. Am Dienstag durfte ich ausschlafen und musste erst zur Mittagszeit anfangen zu arbeiten, weil die „Healthy Baby Show“ auf dem Programm stand. Deswegen fand kein normaler Unterricht statt und ich hatte die Aufgabe, zu fotografieren. Es gibt wahrhaftig schlimmere Arbeitstage.
Alle Babys aus Kathputli Colony im Alter bis zu zwei Jahren konnten bei der Show in der Schule kostenlos von Ärzten auf ihren Gesundheitszustand überprüft werden, eine jährliche Aktion, bei der der Andrang groß war. Letztendlich kam die Gründerin und Haupt-Förderin von Kalakar Trust, um der Preisverleihung beizuwohnen. Gekürt und mit einem Geschenk prämiert wurden jeweils die drei gesündesten Babys in drei unterschiedlichen Altersgruppen.




Indische Verhältnisse bei großem Andrang.


Die Gründerin von Kalakar Trust, auf dem Stuhl sitzend.

Hier sind sie, die Gäste an diesem Tag.



Glückliches Gewinner-"Team"

Wer sich etwas genauer für die Arbeit unserer Organisation interessiert, kann einen Blick auf den „Annual Report“ werfen, der im Internet unter http://kalakartrust.org/ abrufbar ist.
Joeys und meine Arbeit wird unter der Rubrik „International Volunteers“ kurz wiedergegeben. Ein Satz hat mich aber doch schmunzeln lassen:  “During the outings the volunteers used English to discuss what could be seen on the outings and how to interact with the people that they met during their outings.Nun, diese Aussage lasse ich einfach mal unkommentiert so stehen.
Interessant finde ich auch die beiden Case Studies, wobei sich die zweite mit dem Thema „Freiwillige“ beschäftigt. Once the volunteers have learned to manage a classroom in the Kalakar Vikas School, they can control any classroom anywhere for sure.Dieser Aussage stimme ich uneingeschränkt zu, bezweifle aber doch stark, dass ich jemals einen Klassenraum in der Kalakar Vikas School „kontrollieren“ kann.
Wen interessiert, in was für einem Englisch unsere Unterrichtsvorgaben oft verfasst sind, sollte auch einen Blick in den Annex wagen.

Weil Kalakar Trust sich zur Aufgabe gemacht hat, die Interessen traditioneller Künstler zu vertreten, gibt es wie bereits beschrieben zweimal wöchentlich künstlerische Aktivitäten im Unterricht, die jeweils eine Stunde dauern. Im Moment bastle ich wie die Kinder an einer Holzpuppe. Manchmal wird es mir allerdings doch etwas zu anstrengend, weshalb ich dann lieber die Kamera auspacke.





Umgezogen sind wir am letzten Wochenende schließlich doch schon. Mehr Infos und Fotos gibt es im nächsten Eintrag,  noch ist unsere Etage nicht perfekt eingerichtet, aber ich bin dabei.

Montag, 18. Februar 2013


Abschied vom „Rattenloch“


Am Donnerstag waren es genau fünf Monate seit meiner Landung in Delhi – ich steuere geradewegs auf meine persönliche Halbzeit zu. Weil ich nicht komplette zwölf Monate hier bleibe, habe ich in einem Monat schon mehr als die Hälfte erreicht. Unglaublich, wie schnell die Zeit in diesem verrückten Land vergeht.
Mehr oder weniger passend zur Halbzeit ziehen wir dann auch um. Ein etwas chaotischer Umzug, wage ich mal zu behaupten. Jedenfalls wurde das Umzugsdatum ständig verschoben. Hieß es im September noch drei bis vier Monate (also Dezember oder Januar), wurde es schnell Ende Januar. Dann war lange die Rede von Februar, ehe die Gastmutter uns mit Anfang März überraschte. Kurz danach gab es das Kommando zurück, stattdessen wurde immer wieder der 15. Februar genannt. Der war am Freitag – und ich sitze immer noch in der alten, kleinen Wohnung. Es gab aber zwischendurch noch eine Modifikation, gewohnt schwammig wurde gestern, heute oder morgen als möglicher Termin genannt. Gestern Abend dann eine neue, minimal konkrete Information: Es gebe noch Schwierigkeiten mit dem neuen Haus, es sollte aber nicht mehr länger als die kommende Woche dauern. Der Nachsatz „hoffen wir“ hat bei mir allerdings nicht sämtliche Zweifel ausgeräumt. Heute gab es womöglich den Durchbruch – Vorsicht ist weiterhin geboten. Gagan sagte mir, dass ich meine Sachen so packen sollte, dass ich am Samstag umziehen kann. Ich bilde die Vorhut (Joey ist im Urlaub und auf seinem Zwischenseminar), bevor der Rest der Familie nachzieht. Und morgen – so lautet der Plan – wird unser Gastbruder Gagan mir erstmals den Neubau von innen zeigen, Fotos lade ich nach unserem Einzug hoch.
 Solange widme ich mich noch einer indischen Lieblingsbeschäftigung – dem Warten. Wer schon mal Cricket gespielt oder geschaut hat, weiß, was ich meine.
Unten kommen etwas verspätet noch Eindrücke aus unserem alten „Rattenloch“. Wenn ich spätabends noch in die Küche gehe, um Wasser zu holen, sehe ich fast immer Ratten über die Schränke flitzen oder höre sie zumindest rascheln. Und auch in unserem Zimmer haben sich immer wieder welche eingenistet. Dieses Problem sind wir im neu renovierten Haus hoffentlich erst einmal los.

Dort haben Joey und ich dann angeblich eine eigene Etage mit Balkon und Küche, die wir mit zwei indischen Studenten teilen. Gekocht wird weiterhin für uns, aber gleichzeitig besteht die Chance ein bisschen europäische Küche zu zaubern – wobei Zaubern bei meinen Kochkünsten vielleicht etwas übertrieben ist. Eine Etage wird von der Gastfamilie bewohnt, eine weitere vermietet und eine dritte verkauft.
Anlass des Umzugs ist die Hochzeit von Gagan im April, auf die ich auch schon gespannt bin. Wegen ihr wurde das alte Haus der Familie renoviert, schließlich zieht nach der Heirat die Ehefrau mit ein.
Wie immer noch sehr viele Hochzeiten in Indien ist auch Gagans arrangiert, allerdings kennt er seine Verlobte schon seit Kindertagen. Immerhin, so ist diese Ehe vielleicht nicht zum Scheitern verurteilt.
Ashu, ein indischer Student und Freund von mir, hat mir von einer Familie erzählt, in der die Ehe weniger erfolgreich verlief. Das Ehepaar, Anfang dreißig, sei am Valentinstag zusammen in einem Club feiern gegangen. Zumindest die Frau hatte den Abend perfekt geplant: Ihr heimlicher Liebhaber holte sie am Club ab, mit ihm ist sie seitdem verschwunden. Soviel wusste Ashu zu berichten, weil er dem Sohn der Familie Nachhilfe gibt.
Zur arrangierten Hochzeit seiner Schwester in Bihar, einem Bundesstaat im Norden, der an Nepal angrenzt, hatte er mich am Telefon auch eingeladen, sie sollte im Februar oder März stattfinden. Als ich ihn am Samstag traf und nachfragte, erzählte er mir, die Hochzeit sei abgesagt worden. Der vorgesehene Ehemann wollte nicht heiraten und war von seinem Vater gezwungen worden. Weil der „Raum“ (gemeint ist vermutlich das künftige Haus)deswegen noch immer nicht fertig war, hat Ashus Familie die Hochzeit abgesagt. Sicherlich eine kluge Entscheidung, denn man weiß ja jetzt, was mit unzufriedenen Ehepartner passieren kann.

Eindrücke aus dem Rattenloch“:

Unsere Straße, eng wie jede andere im Viertel auch.

Der Hof.

Die Eingangstür zu unserer Wohnung im Erdgeschoss.


Ein altes Foto unseres Zimmers. Ein neues wollte
ich euch nicht zumuten, es sieht nicht mehr ganz so
"ordentlich" aus.

Unser Bad, die sogenannte indische Variante.

Die europäische Version hat sogar eine Dusche
(im Bild nicht zu sehen).

Das Wohnzimmer, das gleichzeitig Schlafzimmer
für Vater und Diener ist.



Die Küche mit Scherwan (so wird es jedenfalls
gesprochen), unserem Diener. Er ist wirklich winzig,
zwei Köpfe kleiner als ich.

Das Schlafzimmer von Gagan und der Gastmutter.
Das Doppelbett bekommen Joey und ich im neuen Haus.

Etwas länger her ist schon der „Tag der Republik“, er war am 25. Januar. Wer sich trotzdem für die etwas gewöhnungsbedürftige Militärparade interessiert, kann auf NWZonline nachlesen, wie die Feierlichkeiten in Delhi begangen wurden: http://www.nwzonline.de/cloppenburg-kreis/militaerparade-mutet-wie-relikt-aus-alten-zeiten-an_a_2,0,1361522368.html

Ich würde es nicht „Rassismus“ nennen, aber als Weißer wird man in Delhi oft anders behandelt als ein Inder (wobei es ja auch weiße Inder geben könnte, aber das nur als Randnotiz). Manchmal im negativen, manchmal im positiven Sinne. Meine Meinung zum Thema „Rassismen in Kinderbüchern“ lest ihr hier: http://www.mitmischen.de/diskutieren/topthemen/politik_und_literatur/streitgespraech/index.jsp

Montag, 4. Februar 2013


Wenn der Slum in die Metro kommt


Kinder, die in der Metro herumlaufen und manch einen anderen Passagier mit irgendeiner Albernheit nerven, sind nichts Ungewöhnliches. Die wenigsten beschweren sich darüber, schließlich bringt man den Kleinsten der Gesellschaft normalerweise etwas mehr Verständnis entgegen. Außerdem kommen in der Metro häufig die verschiedensten Menschen zusammen: Alt trifft auf Jung, Dick auf Dünn, Hübsch auf Hässlich und Arm auf Reich. Hier in Delhi ist letzteres allerdings eher unüblich, zumindest wenn man die Extreme zum Maßstab nimmt. Die reiche Oberschicht der Stadt fährt generell mit dem Auto, sie zieht die vollen Straßen der oft überfüllten Metro vor. Und die arme Unterschicht, die in den Slums zuhause ist, bewegt sich wenn, dann auch anders fort.
Deswegen war es schon allein bemerkenswert, dass ich auf dem Weg zum Fußballspielen am Sonntagabend Frauen mit mehreren Kindern auf dem Fußboden der Metro sitzen sah, die ihrem Aussehen nach zu urteilen in sehr ärmlichen Verhältnissen wohnen. Die Kinder trugen zerrissene Kleidung. Ein Kleinkind hatte nur einen Pullover an und war halbnackt.
Zuerst bekam ich mit, wie eine Mutter anscheinend mit ihrem Kind schimpfte und ihm offensichtlich eine kräftige Schelle verpasste, jedenfalls heulte der Nachwuchs danach erst einmal. Die Frauen hatten sich allerdings etwas weiter weg von mir niedergelassen, sodass drei der Kinder unbeaufsichtigt auf dem Boden krabbelten. Die Zeit vertrieben sie sich damit, anderen Fahrgästen die Schnürsenkel aufzumachen. Keine Mutter war da, die ihnen sagte, dass man so etwas nicht macht. Zwischendurch sammelte eine Frau noch ein Kleinkind ein, das eine leere Flasche auf einen leeren Sitzplatz pfefferte – die Flasche blieb dort einfach liegen.
Die anderen Passagiere reagierten überwiegend belustigt auf das Szenario, das sich vor ihnen abspielte. Auf mich wirkte es – etwas überspitzt formuliert – so, als ob sie sich über Affen im Zoo amüsierten. Wahrscheinlich beruhte ihre Gelassenheit auf dem Gefühl der Überlegenheit. Die Frauen und Kinder setzten sich wie selbstverständlich auf den Boden und nahmen nicht einmal einen leer gewordenen Platz ein. Das Kastensystem lässt grüßen.
Natürlich war ihr Verhalten gemessen an den Vorstellungen der Mittel- und Oberschicht vollkommen unangemessen. In Deutschland hätten wahrscheinlich wenigstens ein paar ältere, geschminkte Damen dieses Benehmen mit einem tadelnden Hüsteln und einem Kopfschütteln quittiert.
 Während ich die Situation mitverfolgte, habe ich mich an meine Arbeit in der Schule erinnert gefühlt. Wahrscheinlich würden sich viele meiner Schülerinnen und Schüler in der Metro ähnlich verhalten. In der Schule fällt es mir gar nicht mehr wirklich auf, wie frech und respektlos sie sind, weil es zum Alltag gehört. Aber schon bei einigen Ausflügen – etwa ins National Museum – konnte ich sehen, wie es ist, wenn sie ins anderen Delhi kommen, raus aus dem Wellblechhüttendorf, in dem unsere Wertvorstellungen nicht gelten. Prügeleien sind auf dem Schulgelände auf der Tagesordnung. Ich warte nur auf den Tag, an dem ich auch ein blaues Auge bekomme, weil ich zwei ineinander verkeilte Jungs voneinander befreie.
Aber woher sollen sie auch das, was wir unter „gutem Benehmen“ verstehen, lernen? Von ihren Eltern oftmals nicht, schließlich guckten mich selbst die Mütter ganz gespannt an, als ihre Zöglinge mir provokant den Mittelfinger zeigten. Dieser Vorfall zeigt, wie wenig Respekt vor dem Mitmenschen zum Teil in diesem Milieu herrscht.
So ist es auch kaum verwunderlich, dass die meisten Vergewaltiger der 23-jährigen Studentin, deren Fall für so großes Aufsehen weit über Indien hinaus sorgte, aus einem Slum im Süden von Delhi kommen.
Natürlich ist ihr Verhalten nicht zu entschuldigen, aber jeder Mensch wird von seinem sozialen Hintergrund geprägt. Im Vergleich zur Situation in Indien ist die Diskussion über mangelnde Chancengleichheit im deutschen Schulsystem ein Witz. Die staatlichen Schulen hier haben einen miserablen Ruf, Klassen mit mindestens 60 Schülern sind normal. Dass da inhaltlich nicht viel hängen bleiben kann bei den Schülern, versteht sich von selbst. Deshalb schickt jeder, der das nötige Kleingeld hat, sein Kind auf eine Privatschule. Das löst aber keines der vielen gesellschaftlichen Probleme, es verschärft sie vielmehr.
Wenn Indien einen nachhaltigen Fortschritt erleben möchte, dann muss es in sein Bildungssystem investieren. Die Schule kann als einzige Institution dafür sorgen, dass alle Kinder auf einem Niveau sind – hinsichtlich ihres Wissens und ihres Verhaltens. Denn Werte zeichnen ein jedes Land aus. Zu Indiens Werten gehört es sicherlich nicht, dass Frauen vergewaltigt werden, Kinder unbeaufsichtigt auf dem Boden der Metro herumkrabbeln und die Unterschicht herablassend behandelt wird. Damit sich das in den Köpfen der Bevölkerung festsetzt, müssen Kinder aus armem und reichem Elternhaus schon in der Schule aufeinander treffen – und nicht erst durch Zufall im Waggon der Metro.

In meinem neuesten, in der Nordwest Zeitung erschienenen Artikel beklage ich mich über die täglichen Tricksereien und Betrügereien: 
http://www.nwzonline.de/cloppenburg/wirtschaft/zwischen-geschaeftemacherei-und-betrug_a_2,0,1156463165.html

Und während alle Welt über den üblen Smog in Peking redet, ist es hier in Delhi eigentlich noch viel schlimmer: http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2013-02/smog-delhi-indien/komplettansicht