Die zwei
Augen des Abschieds
„Gehst du
heute zurück nach Deutschland?” – „Nein,
erst in zwei Wochen.” – „Zwei
Wochen? Nein, Sir!” Traurige Augen, dann eine Umarmung. Momente wie dieses
kurze Gespräch (im Englisch-Hindi-Kauderwelsch) mit meinem Englischschüler
Rohan zeigen mir, dass ich nicht alles falsch gemacht habe bei meiner Arbeit in
diesem Jahr.
Nur zu gut erinnere ich mich an
die Anfangszeit, als ich mich fragte, wie ich jemals den Umgang mit diesen
Kindern lernen sollte, die weder meine Sprache verstanden, noch im Geringsten
Interesse an meinem so schön vorbereiteten Unterricht zeigten. Noch klar vor
Augen habe ich eine meiner ersten Stunden, in der die Schüler die Bibliothek verwüsteten.
Obwohl ich mir nach diesem Erlebnis geschworen hatte, nie wieder eine Klasse
dorthin zu nehmen, tat ich es später – wenn auch notgedrungen - wieder. Und es
klappte. Nicht, dass die Schüler mittlerweile in meinem Unterricht sitzen und
vor Ehrfurcht erstarrt meinen Worten lauschen. Es gibt auch immer noch Stunden,
in denen ich verzweifelt meinen längst nicht mehr so ehrgeizigen Plan aufgebe
und mich dem Chaos hingebe oder brüllend versuche, es zu beseitigen. Diese
Stunden sind jedoch seltener geworden. Zum Glück.
Oft konnte ich in diesem Jahr
meinen Unterricht durchführen; ob die Schüler in jeder Stunde etwas gelernt
haben, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Aber wir haben uns aneinander
gewöhnt. Meine Hindi-Kenntnisse sind zwar grammatikalisch eine vollendete
Katastrophe, sie reichten jedoch aus, um den Schülern klar zu machen, was ich
von ihnen wollte. Außerdem haben die meisten begriffen, dass der nette “Sir” da
vorne auch wütend werden und eine Drohung ernst meinen kann. Auch wenn er sich
manchmal zum Clown macht – und das sogar absichtlich.
Ich konnte und wollte es einfach
nicht lassen, ein paar Späße im Unterricht zu machen. Also muss ich mich nicht
wundern, dass die kleinen Mädchen meiner ehemaligen Kollegin Priyanka erzählten,
ich sei für sie vielmehr ein großer Bruder als ein Sir. Und manche Jungen von
ihren Lehrerinnen ermahnt wurden, weil sie den “Sir” hinter “Benny” einfach vergaßen.
Doch stört mich das? Nein. Ich
muss einfach selbst lachen, wenn mich Muskan perfekt nachäfft, wie ich
versuche, die Handvoll schnatternder Mädchen zu beruhigen – mit einem lang
gezogenen “Sunno” (Deutsch: Hört zu!). Mich freut es, wenn der kleine Nikhil
sich von hinten an mich anschleicht, um mir blitzschnell zwischen die Rippen zu
piksen. Oder Suman lacht, weil ich das Wasser aus meiner Flasche mehr oder
weniger in mich hineinschütte. Innerlich lächle ich, wenn sie – ganz unauffällig
natürlich – ihre Freundinnen darauf aufmerksam macht, wie komisch der Sir doch
trinkt, und mich anschließend ein paar beschämt kichernde Mädchen anschauen.
Oder wenn Sumit RN mit einem freudigen “This is my Sir!” auf mich zukommt und
mich fest drückt.
Bei diesen jüngeren Schülern kann
man sich wirklich die Frage stellen, ob mein Freiwilligendienst etwas gebracht
hat. Auf intellektueller Ebene kurzfristig betrachtet sicherlich kaum etwas.
Langfristig gesehen vielleicht schon mehr. Und wenn nicht, dann haben wir eine schöne
Zeit erlebt. Ich war für manche der große Bruder, den sie nicht haben. Sie
waren für mich wie meine Kinder, die ich (noch) nicht habe.
Greifbarer wird der Sinn und
Erfolg meines Dienstes indes bei meinen älteren
Englisch- und Gitarrenschülern. Doch auch hier habe ich – neben sichtbaren
Fortschritten – zu einigen eine sehr persönliche Beziehung aufgebaut, die es
mir schwer machen wird, Abschied zu nehmen. Am Anfang kam ich als Lehrer, am
Ende gehe ich als Freund. Der Spaß, den ich mit ihnen hatte, ist unbezahlbar. Auf
Neu-Deutsch war mein Freiwilligendienst somit unter dem Strich eine
“Win-Win-Situation”.
Wobei man den persönlichen Gewinn
für mich nicht unterschätzen darf. Alles in allem profitiere ich deutlich mehr
von diesem Auslandsjahr als meine Organisation von meiner Anwesenheit.
Ich habe in diesem Jahr gelernt,
wie es ist, weit weg von Zuhause zu leben. In ein völlig neues Umfeld zu stoßen,
mich in einer komplett anderen Kultur zurecht zu finden. In vielen Fällen stärker
denn je auf mich alleine gestellt zu sein oder andere Ansprechpartner als gewöhnlich
zu haben. In eine komplett neue Rolle zu schlüpfen.
Am Ende dieser fast zwölf Monate
stelle ich stolz fest: Es ist mir erstaunlich gut gelungen. Die meiste Zeit
lang habe ich mich in Delhi sehr wohl gefühlt, gegen Ende – als ich
paradoxerweise endgültig Fuß gefasst hatte – wurde die Sehnsucht nach
Deutschland immer größer. Es gab Aufs und Abs, es gab hellere und dunklere
Zeiten. Richtig dunkel war es aber nie. Es ist verrückt, wie viel sich in einem
Jahr verändern kann. „Ein ganzes Jahr ist eine halbe Ewigkeit”, singen die „Toten
Hosen” in einem ihrer Songs. In gewisser Hinsicht haben sie Recht. An die
letzte „halbe Ewigkeit” erinnere ich mich indes so gut wie an keine andere
zuvor. Vermutlich wird sie mich auch stärker prägen als jede andere.
Denn eines muss ich mir
eingestehen: Ich habe diese Jahr vor allem für mich selbst gemacht. Ich habe
erfahren, wie “deutsch” ich in mancher Hinsicht denke und handle. Mir ist
bewusster geworden, wie stark wir von einer Gesellschaft, ihrer Kultur und
unserem Elternhaus beeinflusst sind. Manchmal im negativen, manchmal im
positiven Sinne. Es bringt nichts, das zu leugnen. Ich bin wie ich bin.
Entweder ich passe in ein Land, in seine Kultur und das dortige (Arbeits-)Umfeld. Oder eben nicht.
Zwischen Indien und mir hat es
ein Jahr lang erstaunlich gut gepasst. Ich habe mich angepasst. Ich habe
gelernt, Dinge besser verstanden im Laufe der Zeit. Ganz am Anfang habe ich von
den vier Wänden im Kino geschrieben. Auf jeder dieser Wände wird ein eigener
Film gespielt. Ich war unsicher, ob ich die Filme jemals verstehen würde.
Heute weiß ich: Vier Leinwände
reichen bei weitem nicht aus, um Indien abzubilden. Dafür ist dieses Land
einfach zu vielschichtig. Es gibt ganz viele verschiedene Ebenen. Sie sind alle
irgendwie miteinander verbunden. Manchmal sind die Verbindungen deutlich,
manchmal verworrener. Einige konnte ich erkennen, für andere bräuchte es wohl
mehr Zeit. Und wieder andere werde ich wohl nie vollends nachvollziehen können,
was allein an meinem persönlichen Hintergrund liegt.
Mein Lernprozess spiegelt sich
auch in diesem Blog wider. Manchmal habe ich zu vorschnell geurteilt oder mich
unbedacht geäußert. Daraus versuche ich für die Zukunft zu lernen. Außerdem
sind die hier geäußerten Ansichten ausschließlich meine persönliche Meinung.
Alle Erfahrungen, die ich gemacht habe, sind ganz individuell. Wer Indien
kennenlernen will, muss selbst für eine längere Zeit dorthin gehen.
Ich verlasse das Land mit einem
lachenden und einem weinenden Auge. Die Freude ist groß, weil ich endlich
wieder in die Heimat fliege.
Traurig macht mich das Wissen,
dass dieses Jahr, dieses Leben, das ich hier geführt habe, einmalig war. Es wird
so nie wiederkommen.
Nie wieder werde ich mit Raunak,
Shekhu, Sumit, Gautam und Suraj im Garten der Schule Fussball spielen. Nie
wieder (oder erst, wenn ich irgendwann wiederkomme) werde ich mit Pawan,
Harish, Kishan und Sanjay auf der Gitarre “Meri Maa” singen.
Sicherlich, die Arbeit war – wie
das ganze Leben in der Megacity Delhi – oft anstrengend. Nicht immer bin ich glücklich
gewesen am Ende des (Arbeits-)Tages. Aber oft genug haben mir meine Schüler ein
Lächeln auf die Lippen gezaubert.
Ich möchte wieder kommen, möglichst
bald, um all diejenigen Menschen
wiederzutreffen, die ich hier lieb gewonnen habe. Ich möchte sehen, wie sich
die Sumits und Priyas und ihr Zuhause entwickeln. Ich sehe mich schon wieder am
Indira Gandhi Airport von Delhi landen. Bis es erneut soweit ist, werde ich mit
einem wehmütigen Lächeln an die Zeit zurückdenken und Rohans traurige Augen als
Ansporn sehen, zurückzukehren.
Bei den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag (15.8.) am Dienstag, 13.8., hatte ich mal wieder die Gelegenheit, Fotos in der Schule zu schießen:
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