Sonntag, 18. August 2013

Der indische Elefant


Man nehme gut neun Mal die Fläche der Bundesrepublik Deutschland und multipliziere die Bevölkerungszahl mit dem Faktor 15. Herauskommt, zumindest statistisch gesehen, der zweitbevölkerungsreichste Staat der Welt: Indien. Geographisch, politisch und gesellschaftlich liegen zwischen diesen beiden Ländern indes Welten, manchmal im positiven, manchmal im negativen Sinne.
Wobei die Wahl der Begriffe „positiv“ und „negativ“ natürlich immer auf subjektiven Eindrücken beruht. Dem einen mag es völlig egal sein, dass die Läden selten feste Öffnungszeiten haben und auf Pünktlichkeit öfters nicht so viel Wert gelegt wird. Dem anderen – laut Klischeebild, dem typischen Deutschen – stoßen solche Dinge dagegen sauer auf. Letztendlich kann man sich an diese Gegebenheiten aber noch ganz gut anpassen. Ich glaube auch, dass ich in diesem Jahr in vielerlei Hinsicht entspannter geworden bin, in anderer Hinsicht – bei hartnäckigen Verhandlungen etwa – stieg indes mein Aggressionspotenzial mit der Zeit. In mancher Hinsicht bin ich – Vorsicht, Klischees! – sehr „deutsch“ geblieben, in anderer hingegen „indischer“. Wahrscheinlich werde ich jedoch erst nach meiner Rückkehr feststellen, wie ich mich verändert habe.
Mit zunehmender Zeit ist mir aufgefallen, dass alle kulturellen Unterschiede eine Ursache haben. Nicht immer liegt der Grund so nahe, wie beim Faible der meisten Inder für’s Drängeln. Bestes Beispiel ist hier der Metro-Umsteigebahnhof „Central Secretariat“.  Die Station ist Endhaltestelle für die Züge der violetten Linie. Demnach müssen alle Fahrgäste aussteigen. Anschließend fährt der Zug die gleiche Strecke zurück, muss also gleichzeitig wieder mit Fahrgästen aufgefüllt werden.  Anstatt dass die wartenden Passagiere warten, bis der Zug leer ist, beginnt nach den ersten Fahrgästen ein unvorstellbares und auch nicht ungefährliches Geschiebe und Drängeln. Die ersten rennen im Waggon dann wie wild umher, um  sich einen der Sitzplätze zu ergattern. Meistens sind die eifrigsten dabei die jungen Männer. Aus meiner Sicht einfach nur unverständlich, aber vermutlich auf einen einfachen Fakt zurückzuführen. Welchen? Schauen wir auf die indische Bevölkerungszahl: 1,2 Milliarden Menschen leben in diesem Land. Fast ein Fünftel der Weltbevölkerung. Da ist es schon weniger verwunderlich, dass jeder auf den eigenen Vorteil bedacht ist, vor allem in einer dermaßen überfüllten Mega-City wie Delhi.
Das gleiche Phänomen – das der hohen Bevölkerungszahl – hat aber auch angenehme Auswirkungen. Hier sitzt man enger beieinander. Ob beim Essen mit der Familie, falls man auf recht engem Raum wohnt oder bei der Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln. In Deutschland ist es wohl kaum vorstellbar, dass in einer recht  leeren Straßenbahn, in der fast jeder einen Sitzplatz bekommen könnte, alle Plätze belegt sind. In der Delhi Metro ist es hingegen die Regel.
Die hohe Bevölkerungsdichte trifft natürlich längst nicht auf Gesamtindien zu. Wenn man mit dem Zug über das Land fährt, sieht man weite, kaum bebaute Flächen. In den Städten hingegen tummeln sich die Menschen.
Noch zeichnen sich kaum politische Lösungen für die Landflucht und die daraus resultierenden Probleme ab. Klar ist, irgendwann muss sich etwas ändern. Denn wenn die Luftverschmutzung weiter drastisch zunimmt, wird das Leben in Delhi fast unmöglich.
Gleichwohl hat es die zumindest auf dem Papier demokratische Regierung ungleich schwerer als etwa die diktatorische in China. Entscheidungen lassen sich hier nicht einfach von der Kommunistischen Partei zwanghaft durchsetzen.
Demokratisch nach unserem Verständnis ist die „größte Demokratie der Welt“ indes nicht. In Aravind Adigas Buch „Der Weiße Tiger“ wird beschrieben, wie die Stimmen ganzer Dörfer gekauft werden vor Wahlen. Und um die Pressefreiheit ist es auch alles andere als rosig bestellt. In der letzten Rangfolge der von Reporter ohne Grenzen lag Indien auf Platz 140 von 178, sieben Plätze hinter Simbabwe. Ein Grund liegt sicherlich darin, dass die Pressefreiheit nicht einmal durch die Verfassung geschützt ist, sondern sich aus der unklar formulierten Meinungsfreiheit ergibt.
Stimmenkauf und Situation der Medien sind nur zwei Beispiele für die Missstände.
Aber kann Indien überhaupt eine Demokratie nach westlichem Vorbild sein?
Der Vergleich zwischen Deutschland und Indien oben zeigt: Die Voraussetzungen sind grundverschieden. Es verhält sich – bezogen auf die Ausdehnung beider Länder –wie mit der Maus und dem Elefanten. Das politische System in Indien stammt aus einem anderen historischen Kontext und trifft auf eine andere gesellschaftliche Realität. Offensichtlich ist: Irgendwann wird sich etwas ändern müssen in diesem Land.
Wie der Wandel aussehen wird, darauf bin ich sehr gespannt.
Ich habe ein Jahr in Delhi gewohnt, aber gleichzeitig einige Regionen des Landes ganz kurz kennengelernt. Ich habe die beiden anderen riesigen Metropolen, Mumbai im Westen und Kolkata im Osten, gesehen, in denen der krasse Gegensatz zwischen Arm und Reich wie in Delhi augenscheinlich wird. Ich war in den bergigen, kaum bewohnten Regionen des Vorderhimalayas im Nordosten und im reichsten Bundesstaat Indiens, in Kerala. Und auf Zugfahrten habe ich einen Blick auf die Landbevölkerung werfen können, manchmal bin ich im Urlaub auch kurz in solche Regionen gekommen.
Die Ausmaße dieses Landes sind unglaublich. Auf allen meinen Reisestationen habe ich die unterschiedlichste Art von Menschen kennengelernt, in Bezug auf ihr Aussehen und auf ihr Verhalten.
Ich habe einen Eindruck von der Vielfalt dieses Landes bekommen, die sich mehr noch als in Zahlen im Alltag widerspiegelt. Vielfalt kann viele Probleme hervorrufen, Vielfalt kann aber auch eine Chance sein. Indien sollte sie für seine Zukunft als Chance begreifen.

Dafür ist aber eine Erkenntnis erforderlich, die ein älterer Englischschüler in meiner Schule schon gewonnen hat. Der letzte Donnerstag, der 15. August, an dem der Staat seine Unabhängigkeit aus der britischen Kolonialherrschaft feiert, wäre der ideale Start, um – bei aller Vielfalt – den von dem Schüler festgestellten Fakt mit mehr Leben zu füllen. Er sagte hinsichtlich der Unterschiede zwischen den Landesteilen: „Wir sind alle Inder!“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen