Der indische Elefant
Man nehme gut neun Mal die Fläche
der Bundesrepublik Deutschland und multipliziere die Bevölkerungszahl mit dem
Faktor 15. Herauskommt, zumindest statistisch gesehen, der
zweitbevölkerungsreichste Staat der Welt: Indien. Geographisch, politisch und
gesellschaftlich liegen zwischen diesen beiden Ländern indes Welten, manchmal
im positiven, manchmal im negativen Sinne.
Wobei die Wahl der Begriffe
„positiv“ und „negativ“ natürlich immer auf subjektiven Eindrücken beruht. Dem einen
mag es völlig egal sein, dass die Läden selten feste Öffnungszeiten haben und
auf Pünktlichkeit öfters nicht so viel Wert gelegt wird. Dem anderen – laut
Klischeebild, dem typischen Deutschen – stoßen solche Dinge dagegen sauer auf.
Letztendlich kann man sich an diese Gegebenheiten aber noch ganz gut anpassen.
Ich glaube auch, dass ich in diesem Jahr in vielerlei Hinsicht entspannter
geworden bin, in anderer Hinsicht – bei hartnäckigen Verhandlungen etwa – stieg
indes mein Aggressionspotenzial mit der Zeit. In mancher Hinsicht bin ich –
Vorsicht, Klischees! – sehr „deutsch“ geblieben, in anderer hingegen
„indischer“. Wahrscheinlich werde ich jedoch erst nach meiner Rückkehr
feststellen, wie ich mich verändert habe.
Mit zunehmender Zeit ist mir
aufgefallen, dass alle kulturellen Unterschiede eine Ursache haben. Nicht immer
liegt der Grund so nahe, wie beim Faible der meisten Inder für’s Drängeln.
Bestes Beispiel ist hier der Metro-Umsteigebahnhof „Central Secretariat“. Die Station ist Endhaltestelle für die Züge
der violetten Linie. Demnach müssen alle Fahrgäste aussteigen. Anschließend
fährt der Zug die gleiche Strecke zurück, muss also gleichzeitig wieder mit
Fahrgästen aufgefüllt werden. Anstatt
dass die wartenden Passagiere warten, bis der Zug leer ist, beginnt nach den
ersten Fahrgästen ein unvorstellbares und auch nicht ungefährliches Geschiebe
und Drängeln. Die ersten rennen im Waggon dann wie wild umher, um sich einen der Sitzplätze zu ergattern.
Meistens sind die eifrigsten dabei die jungen Männer. Aus meiner Sicht einfach
nur unverständlich, aber vermutlich auf einen einfachen Fakt zurückzuführen.
Welchen? Schauen wir auf die indische Bevölkerungszahl: 1,2 Milliarden Menschen
leben in diesem Land. Fast ein Fünftel der Weltbevölkerung. Da ist es schon
weniger verwunderlich, dass jeder auf den eigenen Vorteil bedacht ist, vor
allem in einer dermaßen überfüllten Mega-City wie Delhi.
Das gleiche Phänomen – das der
hohen Bevölkerungszahl – hat aber auch angenehme Auswirkungen. Hier sitzt man
enger beieinander. Ob beim Essen mit der Familie, falls man auf recht engem
Raum wohnt oder bei der Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln. In Deutschland
ist es wohl kaum vorstellbar, dass in einer recht leeren Straßenbahn, in der fast jeder einen
Sitzplatz bekommen könnte, alle Plätze belegt sind. In der Delhi Metro ist es
hingegen die Regel.
Die hohe Bevölkerungsdichte
trifft natürlich längst nicht auf Gesamtindien zu. Wenn man mit dem Zug über
das Land fährt, sieht man weite, kaum bebaute Flächen. In den Städten hingegen
tummeln sich die Menschen.
Noch zeichnen sich kaum
politische Lösungen für die Landflucht und die daraus resultierenden Probleme
ab. Klar ist, irgendwann muss sich etwas ändern. Denn wenn die
Luftverschmutzung weiter drastisch zunimmt, wird das Leben in Delhi fast
unmöglich.
Gleichwohl hat es die zumindest
auf dem Papier demokratische Regierung ungleich schwerer als etwa die
diktatorische in China. Entscheidungen lassen sich hier nicht einfach von der
Kommunistischen Partei zwanghaft durchsetzen.
Demokratisch nach unserem
Verständnis ist die „größte Demokratie der Welt“ indes nicht. In Aravind Adigas
Buch „Der Weiße Tiger“ wird beschrieben, wie die Stimmen ganzer Dörfer gekauft
werden vor Wahlen. Und um die Pressefreiheit ist es auch alles andere als rosig
bestellt. In der letzten Rangfolge der von Reporter ohne Grenzen lag Indien auf
Platz 140 von 178, sieben Plätze hinter Simbabwe. Ein Grund liegt sicherlich
darin, dass die Pressefreiheit nicht einmal durch die Verfassung geschützt ist,
sondern sich aus der unklar formulierten Meinungsfreiheit ergibt.
Stimmenkauf und Situation der
Medien sind nur zwei Beispiele für die Missstände.
Aber kann Indien überhaupt eine
Demokratie nach westlichem Vorbild sein?
Der Vergleich zwischen
Deutschland und Indien oben zeigt: Die Voraussetzungen sind grundverschieden.
Es verhält sich – bezogen auf die Ausdehnung beider Länder –wie mit der Maus
und dem Elefanten. Das politische System in Indien stammt aus einem anderen
historischen Kontext und trifft auf eine andere gesellschaftliche Realität.
Offensichtlich ist: Irgendwann wird sich etwas ändern müssen in diesem Land.
Wie der Wandel aussehen wird,
darauf bin ich sehr gespannt.
Ich habe ein Jahr in Delhi
gewohnt, aber gleichzeitig einige Regionen des Landes ganz kurz kennengelernt.
Ich habe die beiden anderen riesigen Metropolen, Mumbai im Westen und Kolkata
im Osten, gesehen, in denen der krasse Gegensatz zwischen Arm und Reich wie in
Delhi augenscheinlich wird. Ich war in den bergigen, kaum bewohnten Regionen
des Vorderhimalayas im Nordosten und im reichsten Bundesstaat Indiens, in
Kerala. Und auf Zugfahrten habe ich einen Blick auf die Landbevölkerung werfen
können, manchmal bin ich im Urlaub auch kurz in solche Regionen gekommen.
Die Ausmaße dieses Landes sind
unglaublich. Auf allen meinen Reisestationen habe ich die unterschiedlichste
Art von Menschen kennengelernt, in Bezug auf ihr Aussehen und auf ihr
Verhalten.
Ich habe einen Eindruck von der
Vielfalt dieses Landes bekommen, die sich mehr noch als in Zahlen im Alltag
widerspiegelt. Vielfalt kann viele Probleme hervorrufen, Vielfalt kann aber
auch eine Chance sein. Indien sollte sie für seine Zukunft als Chance
begreifen.
Dafür ist aber eine Erkenntnis
erforderlich, die ein älterer Englischschüler in meiner Schule schon gewonnen
hat. Der letzte Donnerstag, der 15. August, an dem der Staat seine
Unabhängigkeit aus der britischen Kolonialherrschaft feiert, wäre der ideale
Start, um – bei aller Vielfalt – den von dem Schüler festgestellten Fakt mit
mehr Leben zu füllen. Er sagte hinsichtlich der Unterschiede zwischen den
Landesteilen: „Wir sind alle Inder!“
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