Mittwoch, 14. November 2012


Irgendwie anders – und doch schon gewohnt


Gestern vor genau zwei Monaten ging am Abend mein Flieger von Düsseldorf nach Dubai, am nächsten Tag dann der Anschlussflug nach Delhi. Ich begab mich auf eine weite Reise. Weit nicht nur wegen der Entfernung zwischen Deutschland und Indien, weit vor allem angesichts der kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Ich wechselte die Welten – und musste mich zunächst einmal an die Umstellung gewöhnen. Die erste Woche war verwirrend. Ich war unsicher, ob ich es hier ein Jahr lang aushalten würde. Dabei war Indien in vielerlei Hinsicht wie angekündigt. Trotzdem: Von Bettlern angefasst zu werden und die Slums in der Realität zu sehen, ist etwas anderes, als im Fernsehen eine Dokumentation über die Dritte Welt zu schauen. Ich habe von den vier Leinwänden im Kino geschrieben, die ich nicht einordnen konnte. Auch heute weiß ich nicht, ob ich es kann – und ob ich es jemals können werde. Dennoch habe ich in den rund acht Wochen schon jede Menge nützliche, angenehme und weniger angenehme Erfahrungen gemacht.

Nudeln auf die indische Art (Essen)
Dem Durchschnittsbürger in Deutschland müssen ja schon die Tränen kommen, wenn er sich auch nur die Schärfe des indischen Essen vorstellt. In unserer Gastfamilie bekommen wir zwar scharfes Essen, das war aber auf unseren Gaumen abgestimmt. Heute ist es kaum noch scharf – anders als das Essen, das wir außerhalb teilweise essen. Dennoch ist es gut erträglich und weit entfernt von jeder Horrorgeschichte. Ein weiteres Schreckgespenst im Vorfeld waren die Straßenstände, die ich unbedingt meiden sollte. In der Anfangszeit habe ich mich brav daran gehalten, bis ich es irgendwann dann doch einmal gewagt habe. Inzwischen esse ich häufiger das sogenannte „Outside food“, ohne bisher echte „stomach problems“ (Magenprobleme - eine schöne Umschreibung der Inder) bekommen zu haben. Und solange das Essen heiß ist und (mögliche) Bakterien absterben, ist der nicht so hohe Hygienestandard problemlos zu verkraften. Psychisch weniger leicht zu ertragen ist dagegen das indische Frühstück. Nicht vom Geschmack her – das Essen, das wir in der Gastfamilie bekommen, schmeckt hervorragend. Natürlich ist es schon manchmal etwas eintönig, jeden Tag daal (eine Art Linsen- oder Bohnensuppe), Kartoffeln mit Gemüse und roti (das typische indische Brot) zu bekommen, manchmal noch mit Reis. Weil wir aber am Wochenende auch oft woanders essen, ist das nicht weiter tragisch. Tragisch – um ein wenig zu übertreiben – ist dagegen das, was uns am Morgen vorgesetzt wird. Mein Favorit, Omelett auf Toastbrot, bildet die Ausnahme. In der Regel gibt es mit Kartoffeln gefülltes oder speziell gewürztes roti. Das ist zwar lecker, aber eben etwas wenig abwechslungsreich. Zumal es hin und wieder Nudeln oder Reis zum Frühstück gibt – meistens leicht scharf. Schärfe am Morgen? Ein absolutes No-Go für mich. Da vermisse ich dann doch ein typisches deutsches Frühstück mit Brötchen, Müsli und Ei. Im Krankenhaus gab es das in abgespeckter Version – aber da wollte ich eigentlich nicht noch einmal hin.
Tabletteninflation und „Dreckwasser“ (Krankheit und Hygiene)
Sobald es irgendwo zwickt oder juckt, wird zur Tablette gegriffen. Unsere Gastfamilie ist im Umgang mit Medikamenten nicht zimperlich und empfiehlt auch uns bei jeder Kleinigkeit den Gang zum Arzt. Meine Entzündung am Auge, die vermutlich durch die schmutzige Luft verursacht wurde, ging auch so nach einer Woche weg. Zumal ich zu dem Arzt, der mein Dengue-Fieber nicht erkannt hat, aus unerklärlichen Gründen sowieso kein Vertrauen mehr habe. Es gibt zwar auch den Familiendoktor ganz in der Nähe, aber wenn es nichts Ernsthaftes ist, meide ich indische Ärzte. Vielleicht war Dr. Sharma nur ein Negativbeispiel, vielleicht repräsentiert er aber auch den indischen Durchschnittsarzt. Einem fiebrigen Patienten drei Paracetamol-Tabletten am Tag zu verschreiben ist in Deutschland mindestens unüblich.
Zum Glück war ich ja nur einmal krank bisher. Und das, obwohl ich mit Leistungswasser die Zähne putze. Angeblich auch sehr gefährlich. Doch als wir gesehen haben, dass der Diener der Familie die Nudeln nach dem Kochen – warum auch immer - mit Leitungswasser abschreckt, haben wir unsere anfängliche Übervorsicht aufgegeben. Ohne negative Konsequenzen! Trinken würde ich ungefiltertes Leitungswasser deswegen trotzdem nicht.
Zwischen extrem billig und normal teuer (Preise)
100 Euro Taschengeld bekomme ich von meiner Entsendeorganisation VIA e.V.. Das klingt nach nicht viel Geld. Ist es auch nicht – in Deutschland. Und in Indien?
Viele Dinge hier sind billiger als in Deutschland. Wer jedoch glaubt, in Indien gäbe es alles zum Schnäppchenpreis, der irrt. In den westlichen Malls oder auch guten Restaurants lassen sich gut und gerne Preise zahlen, die an europäische Verhältnisse erinnern. Günstig ist dagegen der Einkauf auf Basaren, der allerdings immer mit nervenaufreibenden Verhandlungen verbunden ist. Einen Baumwollschal für umgerechnet ca. 1,50 Euro zu bekommen, verlangte mir eine gewisse Hartnäckigkeit ab. Selten verhandelt werden kann dagegen in kleineren Privatläden, die sich etwa in unserem Viertel finden. Sie sind oft günstiger als offizielle Ketten in den Malls. So kostet ein Briefumschlag nur eine Rupie, das entspricht nicht einmal zwei Cent. Auch andere Dienstleistungen sind extrem günstig. Für Autorikschas bezahlt man für eine Strecke von zwei bis drei Kilometern nicht einmal fünfzig Cent – wobei der Preis immer auch von der Tageszeit und vom Verhandlungsgeschick abhängt. Einen Brief nach Deutschland gibt es sogar fast gratis, wenn man so will: Rund 30 Cent werden fällig – für so wenig Geld kann man nicht einmal einen innerdeutschen Brief versenden. Aus unserer Sicht lächerlich niedrig sind auch die Preise für Gemüse und Obst an Straßenständen: Zehn Bananen haben wir zum Beispiel schon für etwas weniger als 50 Cent bekommen.
Europäische Preise zahlen wir hingegen für Toilettenpapier – kein Wunder, schließlich benutzen es die Inder nicht. Brauchbare Taschentücher habe ich noch nirgendwo gefunden – ebenso wenig wie einen Inder, der sich die Nase putzt. Da musste dann doch ein Paket aus Deutschland aushelfen. Ansonsten lässt es sich in Indien aber mit 100 Euro monatlich leben. Wer suchet, der findet – und zwar billig!
Only English? (Sprache)
Englisch ist in Indien offiziell Amtssprache. In der Theorie. In der Praxis ist das zumindest in Delhi eher nicht der Fall. Natürlich hängt es auch davon ab, in welchen Kreisen man sich bewegt. Gebildete Inder aus der oberen Mittel- oder der Oberschicht sprechen selbstverständlich ein gutes Englisch. Darunter wird es teilweise schwieriger. Bei der Grammatik vieler Inder stehen selbst mir als Deutschem die Haare zu Berge. Dennoch funktioniert die Verständigung in der Regel: Der Rikschafahrer kennt meistens die Zahlen und die nötigen Argumente für hohe Preise, der Verkäufer ebenso. Auch den Weg können einem die meisten auf Englisch erklären. Das tun sie auch gerne und überspielen dabei gerne ihre Ahnungslosigkeit. Schwierig wird es nur, wenn es um Zeiten geht. Gagan, unser Gastbruder, ist dafür das beste Beispiel. Sein Englisch ist nicht gut, aber es reicht eigentlich aus zur Verständigung. Das einzige Problem: Er benutzt immer das Zukunftswort „will“ – egal ob er in der Vergangenheit oder im Futur spricht. Der Grund: In Hindi gibt es ein Wort für „gestern“ und „morgen“ – „kal“.
Das weiß ich in Hindi – viel mehr aber auch nicht. Einen Hindi-Sprachkurs werde ich nicht mehr machen. Ich bringe mir das Nötigste selbst bei und werde sehen, wie weit ich innerhalb des Jahres komme. An sich ist die Sprache nicht schwierig, nur die Aussprache hat es in sich. Meinen Schülern kann ich hin und wieder schon mit einigen Brocken etwas vermitteln – und so lerne ich nach und nach, was „Schreib!“, „Setz dich hin!“ oder „Hör zu!“ heißt. Natürlich wäre es schön, wenn ich ihnen noch präzisere Anweisungen geben könnte. Dass sie die dann oft befolgen, bezweifle ich aber trotzdem.
Freie Tage sind Feiertage (Feiertage)
Dass die Hindus viele Götter haben, ist hinlänglich bekannt. Dass sie deswegen auch viele Feiertage haben, dagegen weniger. Allein diese Woche sind es zwei – gestern und morgen. Gestern gab es Silvester verfrüht, Teil 2. Bei Diwali werden allerdings keine Statuen verbrannt, sondern nur Böller und Leuchtraketen in die Luft geschossen. Warum das Fest eigentlich gefeiert wird, konnte mir niemand so richtig erklären – ganz nach dem Motto: Hauptsache Feiern. Dazu kommen noch islamische und christliche Feiertage, an denen wir aber nicht unbedingt frei haben. Kein Problem, die Hindus allein haben ja mehr als genug. Aber trotz ihrer Vielzahl heißt es für mich immer noch: Freie Tage sind Feiertage!
Wenn gar nichts geht, geht der Schwarzmarkt (Betrüger und Geschäftemacher)
Die Mühlen der indischen Bürokratie mahlen langsam. Was ich bei der Registrierung schon feststellen konnte, wiederholte sich am Bahnhof. Hoa, eine Freundin von Joey, die bei uns auf der Durchreise zu Besuch war, benötigte noch ein Zugticket für den Sonntag. Drei Stunden Wartezeit waren nötig für den fünfminütigen Kauf. Dabei hätten wir es auch einfacher haben können. Vorher hatte uns nämlich ein netter Inder ungefragt angesprochen und zur offiziellen Touristeninformation am Connaught Place gebracht. Dort hieß es, alle Züge für das Wochenende seien belegt, lediglich die Klasse CC sei noch verfügbar. Für eine einzelne weibliche Reisende sei die aber nicht empfehlenswert – ein Schwachsinn, genauso wie die aufgerufenen Preise. Mich machte es schon stutzig, als der gute Mann behauptete, das billigste Ticket koste 25 Euro – ja, er redete nur von Euro, nicht von Rupien. Deswegen legte er uns eine Taxifahrt für 125 Euro nahe. Wir lehnten ab – und sein Kollege zog einen letzten Trumpf aus der Tasche. Eigentlich gäbe es ja keine Tickets mehr. Er könnte allerdings für einen etwas höheren Preis welche auf dem Schwarzmarkt besorgen. Wir lehnten abermals dankend ab, verließen das seriös anmutende Gebäude und fuhren zum Bahnhof, wo es ein Ticket für rund 7 Euro bei guten Reisebedingungen gab. Müde kamen wir abends zu Hause an und lasen zufällig wenig später im Reiseführer: „Hilfsbereite Typen, die versuchen, einen zur ,Touristeninformation‘ am Connaught Place zu lotsen, meiden.“

Auch wenn wir oder ich gelegentlich noch in Fallen tappen, habe ich mich mittlerweile an die neuen Umstände gewöhnt. Die freundliche und aufgeschlossene Art vieler Inder macht Spaß – und ist teilweise sogar berührend. Natürlich gibt es auch solche, deren Freundlichkeit einen Hintergedanken hat – siehe letzter Abschnitt. Natürlich werde ich auch oft genug plump angestarrt. Aber dann gibt es Menschen wie den älteren Herr, der mich in der Metro fragte: „Do you like my country?“ Als ich die Frage ehrlich bejahte, war er außer sich vor Freude. Er war so glücklich, dass er mir einen freien Sitzplatz anbot. Ich lehnte ab. Bei aller Höflichkeit: Er hatte das Sitzen weitaus nötiger als ich.
Es sind nur Eindrücke, die ich hier schildere. Einige Erkenntnisse werden sich vielleicht mit der Zeit relativieren oder verändern. Ich werde weitere Erfahrungen machen, die womöglich den bisherigen grundsätzlich widersprechen. Und auch wenn sie negativ sind, sind sie gut – denn wegen ihnen bin ich hier.

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