Angst vor den Bulldozern
Alles war wie vor einem halben
Jahr, als ich zur Kalakar Vikas School ging, der Schule am Rande der Kathputli
Colony, in der ich während meines Freiwilligendienstes im letzten Jahr
gearbeitet habe. Als ich mich am Freitagnachmittag verabschiedete, war immer
noch fast alles wie vorher. Lediglich die Polizisten am Eingang der Kathputli
Colony, dem Künsterslum aus dem meine ehemaligen Schüler kommen, deuteten
darauf hin, dass es beim nächsten Mal, wenn ich komme, wohl ganz anders
aussehen wird.
Stehen dann Malls da, wo im
Moment noch kleine Jungen und Mädchen Murmeln spielen? Stehen wirklich
Sozialwohnungen da, wo im Moment noch Hütten stehen?
Schon während meines Aufenthaltes
hieß es, die Colony müsse geräumt werden. Seit Jahren geht das so. Konkret
wurde es nie. Bis vor einigen Wochen.
Der Hintergrund: Raheja Builders,
ein familiengeführtes, milliardenschweres Bauunternehmen hat das zentral
gelegen Land in West-Delhi, auf dem die Puppenspieler, Trommler, Akrobaten, Tänzer
und all die anderen Künstler ihre Colony errichtet haben, aufgekauft. Die Lage
im Westen Delhis nahe des Connaught Place und des Diplomatenviertels – sprich:
des modernen Delhis – macht das Land so attraktiv. Auf einem Großteil der
Fläche sollen Shoppingzentren für die Reichen entstehen, ein kleiner Teil ist
vorgesehen, um Hochhäuser mit Wohnungen zu errichten. In die sollen später die
Künstlerfamilien einziehen. Das hat man ihnen zumindest versprochen. Dass weder
Raheja Builders noch die Delhi Development Authority (DDA) den Familien eine
schriftliche Garantie hierfür gegeben hat, schürt das Misstrauen unter den
Familien. Sie sollen, so verspricht es die DDA, für zwei Jahre in ein
Übergangscamp ziehen und anschließend die Wohnungen beziehen.
Die Familien indes befürchten,
dass sie nicht zurückkehren können, sobald sie einmal gegangen sind. Außerdem
werden nur Wohnungen für 2800 Familien gebaut, in der Colony leben jedoch 3500.
Die Wohnungen seien ferner zu klein für die Großfamilien, lautet ein weiteres Argument,
für ihre künstlerischen Aktivitäten, mit denen sie ihren Lebensunterhalt
verdienen, sei der Platz ebenso wenig ausreichend.
Die DDA und Raheja Builders haben
sich von diesen Argumenten bislang nicht entscheidend überzeugen lassen.
Immerhin konnten die Künstler einen Aufschub erwirken, vor April müssen sie
nicht umziehen. Für den 11. März war ein Gerichtstermin angesetzt, der jedoch
auf die nächste Woche verschoben wurde. Ein Erfolg der Künstler wäre vor dem
Hintergrund des indischen Justizsystems, in dem Geld und Macht leider oftmals
die entscheidende Rolle spielen, allerdings eine Sensation.
Alle Bewohner der Colony, die im
Shadipur Depot liegt, müssen sich vor dem Umzug in das Übergangscamp
registrieren lassen, daher patroullieren seit über 2 Wochen Polizisten am
Eingang der Colony. Einige Familien sind bereits umgezogen, auf einem riesigen
Plakat war ein Zeitungsartikel abgedruckt, in dem bereits umgezogene Familien
berichten, wie gut es ihnen im neuen Zuhause gefalle. Als ich ihn darauf anspreche,
mein Ajay, einer der älteren Schüler in meinem Alter: „Das ist ein Fake.“
Tatsächlich wirkt es wie ziemlich plumpe Propaganda, zumal daneben Fotos
abgebildet sind, die die späteren Wohnungen zeigen sollen. Wer glaubt, dass die
Künstler in solche Wohnungen einziehen werden, dass sie es sich überhaupt
leisten können, kennt entweder nicht die Realität oder ist hochgradig naiv. Die
abgebildeten Wohnungen gleichen guten Hotelzimmern in Delhi, selbst die
Mittelschicht würde sich ein solches Heim wohl kaum leisten können.
Man kann sich natürlich fragen,
warum die Menschen lieber in der Kathputli Colony, dem Slum ohne eigenes
Badezimmer, ohne funktionierende Kanalisation und mit Hütten auf engstem Raum,
bleiben möchten. Es erscheint nahe liegend, die Baupläne der Unternehmer
gutzuheißen, nach dem Motto: Willst du etwa einen Slum erhalten?
Es wäre absurd, zu behaupten, die
Künstler würden sich gegen bessere Lebensbedingungen weigern. Darum geht es
nicht. Rahul, 19, sagte einmal zu mir: „Ich kann hier keine Freunde hin nehmen,
es ist zu dreckig.“ Und auch die jüngeren Schüler beklagten sich gegenüber der
ehemaligen Englischlehrerin Priyanka manchmal, sie könnten sich zuhause nicht
auf das Lernen konzentrieren.
Es geht vielmehr darum, dass die
Gefahr besteht, dass es den Familien schlechter geht, sobald sie einmal die
Colony geräumt haben. Dass sie im Zeltlager bleiben müssen, während die
Oberschicht im Shadipur Depot Subway-Sandwiches isst.
Die Sorgen der Bewohner wurden
nicht gehört. Sie wurden nicht mit einbezogen in die Planungen, was mit dem
Land geschehen soll. Obwohl ihnen der ehemalige indische Premierminister Rajiv
Gandhi einst versprochen hatte, sie könnten für immer in der Kathputli Colony
dort leben, müssen sie nun umziehen, ohne dass man ihnen angemessene Alternativen
bietet. Gerne nimmt man sie wie Gandhi mit auf Staatsbesuche in die USA zu
Ronald Reagan, um die Traditionen Indiens zu präsentieren. Doch wenn sie dem
Modernisierungswahn im Weg stehen, müssen sie weichen.
Indien wächst weiterhin rasant,
ohne dabei grundlegende Probleme zu lösen. Auf dem Weg in die Zukunft müssen
alle mitgenommen werden, sonst wird der Subkontinent irgendwann an seinen
ungelösten Problemen scheitern.
Es wäre zu einfach, beim Kampf
der Künstler gegen die DDA und Raheja Builders vom Kampf der Tradition gegen
die Moderne zu sprechen. Zwar verdienen die Bewohner der Colony ihr Geld
weiterhin mit Puppenspiel, Tanz und traditionellem Trommeln, wie es ihre
jahrhundertealte Tradition ist. Aber die meisten besitzen auch Handys, Fernseher
und haben einen Facebook-Account. Auch sie träumen von einem besseren Leben,
wie es ihnen in Bollywood-Filmen gezeigt wird. Und genau deswegen, weil nicht
wenige der Künstler auch Wert auf die Bildung und Zukunft ihrer Kinder legen,
lehnen sie sich auf gegen die Räumung der Kathputli Colony.
Wenn in Delhi weiterhin luxuriöse
Einkaufszentren die Armen aus den Stadtzentren verdrängen, verdrängen sie doch
nicht das Problem. Das Problem, dass ein Großteil der indischen Bevölkerung
andere Sorgen hat als die Frage, ob es den Anschlussflug zum Geschäftsmeeting
in Frankfurt trotz der Verspätung noch erreicht.
Irgendwo im Kleingedruckten
taucht dann auch noch die Frage auf, wie es eine Kultur mit Tradition und
Moderne hält. Doch diese Frage ist eine grundsätzliche, sie beschränkt sich
nicht auf die Kathputli Colony und auch nicht auf Indien.
Die für ihre Bewohner
existenzielle Frage, was aus der Kathputli Colony wird, beschäftigt mich, als
ich am Freitag in Richtung Flughafen fahre. Die Zeichen stehen auf Räumung. Bislang
wehrt sich die Mehrzahl der Bewohner gegen einen Umzug.
Wie lange werden sie Erfolg haben
können? Was passiert, wenn sie sich weiterhin weigern, umzuziehen, trotz eines möglichen
Gerichtsurteiles?
Kommen dann die Bulldozer?
Einen gute Beschreibung der Lage der Kathputli Colony liefert auch „The
Australian“:
Eine Petition wurde ins Leben gerufen, um die Forderung der Bewohner
nach Transparenz, dem Rückzug der Polizei und ihrem Recht zur Mitbestimmung zu
untermauern:
BITTE UNTERSCHREIBT UND ZEIGT SOLIDARITÄT MIT DEN KÜNSTLERN
AUS DER KATHPUTLI COLONY!
Eindrücke vom Anmarschieren der Polizisten und den Protesten in der Colony:
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