Sonntag, 16. März 2014

Angst vor den Bulldozern

                                           
Alles war wie vor einem halben Jahr, als ich zur Kalakar Vikas School ging, der Schule am Rande der Kathputli Colony, in der ich während meines Freiwilligendienstes im letzten Jahr gearbeitet habe. Als ich mich am Freitagnachmittag verabschiedete, war immer noch fast alles wie vorher. Lediglich die Polizisten am Eingang der Kathputli Colony, dem Künsterslum aus dem meine ehemaligen Schüler kommen, deuteten darauf hin, dass es beim nächsten Mal, wenn ich komme, wohl ganz anders aussehen wird.
Stehen dann Malls da, wo im Moment noch kleine Jungen und Mädchen Murmeln spielen? Stehen wirklich Sozialwohnungen da, wo im Moment noch Hütten stehen?
Schon während meines Aufenthaltes hieß es, die Colony müsse geräumt werden. Seit Jahren geht das so. Konkret wurde es nie. Bis vor einigen Wochen.
Der Hintergrund: Raheja Builders, ein familiengeführtes, milliardenschweres Bauunternehmen hat das zentral gelegen Land in West-Delhi, auf dem die Puppenspieler, Trommler, Akrobaten, Tänzer und all die anderen Künstler ihre Colony errichtet haben, aufgekauft. Die Lage im Westen Delhis nahe des Connaught Place und des Diplomatenviertels – sprich: des modernen Delhis – macht das Land so attraktiv. Auf einem Großteil der Fläche sollen Shoppingzentren für die Reichen entstehen, ein kleiner Teil ist vorgesehen, um Hochhäuser mit Wohnungen zu errichten. In die sollen später die Künstlerfamilien einziehen. Das hat man ihnen zumindest versprochen. Dass weder Raheja Builders noch die Delhi Development Authority (DDA) den Familien eine schriftliche Garantie hierfür gegeben hat, schürt das Misstrauen unter den Familien. Sie sollen, so verspricht es die DDA, für zwei Jahre in ein Übergangscamp ziehen und anschließend die Wohnungen beziehen.
Die Familien indes befürchten, dass sie nicht zurückkehren können, sobald sie einmal gegangen sind. Außerdem werden nur Wohnungen für 2800 Familien gebaut, in der Colony leben jedoch 3500. Die Wohnungen seien ferner zu klein für die Großfamilien, lautet ein weiteres Argument, für ihre künstlerischen Aktivitäten, mit denen sie ihren Lebensunterhalt verdienen, sei der Platz ebenso wenig ausreichend.
Die DDA und Raheja Builders haben sich von diesen Argumenten bislang nicht entscheidend überzeugen lassen. Immerhin konnten die Künstler einen Aufschub erwirken, vor April müssen sie nicht umziehen. Für den 11. März war ein Gerichtstermin angesetzt, der jedoch auf die nächste Woche verschoben wurde. Ein Erfolg der Künstler wäre vor dem Hintergrund des indischen Justizsystems, in dem Geld und Macht leider oftmals die entscheidende Rolle spielen, allerdings eine Sensation.
Alle Bewohner der Colony, die im Shadipur Depot liegt, müssen sich vor dem Umzug in das Übergangscamp registrieren lassen, daher patroullieren seit über 2 Wochen Polizisten am Eingang der Colony. Einige Familien sind bereits umgezogen, auf einem riesigen Plakat war ein Zeitungsartikel abgedruckt, in dem bereits umgezogene Familien berichten, wie gut es ihnen im neuen Zuhause gefalle. Als ich ihn darauf anspreche, mein Ajay, einer der älteren Schüler in meinem Alter: „Das ist ein Fake.“ Tatsächlich wirkt es wie ziemlich plumpe Propaganda, zumal daneben Fotos abgebildet sind, die die späteren Wohnungen zeigen sollen. Wer glaubt, dass die Künstler in solche Wohnungen einziehen werden, dass sie es sich überhaupt leisten können, kennt entweder nicht die Realität oder ist hochgradig naiv. Die abgebildeten Wohnungen gleichen guten Hotelzimmern in Delhi, selbst die Mittelschicht würde sich ein solches Heim wohl kaum leisten können.
Man kann sich natürlich fragen, warum die Menschen lieber in der Kathputli Colony, dem Slum ohne eigenes Badezimmer, ohne funktionierende Kanalisation und mit Hütten auf engstem Raum, bleiben möchten. Es erscheint nahe liegend, die Baupläne der Unternehmer gutzuheißen, nach dem Motto: Willst du etwa einen Slum erhalten?
Es wäre absurd, zu behaupten, die Künstler würden sich gegen bessere Lebensbedingungen weigern. Darum geht es nicht. Rahul, 19, sagte einmal zu mir: „Ich kann hier keine Freunde hin nehmen, es ist zu dreckig.“ Und auch die jüngeren Schüler beklagten sich gegenüber der ehemaligen Englischlehrerin Priyanka manchmal, sie könnten sich zuhause nicht auf das Lernen konzentrieren.
Es geht vielmehr darum, dass die Gefahr besteht, dass es den Familien schlechter geht, sobald sie einmal die Colony geräumt haben. Dass sie im Zeltlager bleiben müssen, während die Oberschicht im Shadipur Depot Subway-Sandwiches isst.
Die Sorgen der Bewohner wurden nicht gehört. Sie wurden nicht mit einbezogen in die Planungen, was mit dem Land geschehen soll. Obwohl ihnen der ehemalige indische Premierminister Rajiv Gandhi einst versprochen hatte, sie könnten für immer in der Kathputli Colony dort leben, müssen sie nun umziehen, ohne dass man ihnen angemessene Alternativen bietet. Gerne nimmt man sie wie Gandhi mit auf Staatsbesuche in die USA zu Ronald Reagan, um die Traditionen Indiens zu präsentieren. Doch wenn sie dem Modernisierungswahn im Weg stehen, müssen sie weichen.
Indien wächst weiterhin rasant, ohne dabei grundlegende Probleme zu lösen. Auf dem Weg in die Zukunft müssen alle mitgenommen werden, sonst wird der Subkontinent irgendwann an seinen ungelösten Problemen scheitern.
Es wäre zu einfach, beim Kampf der Künstler gegen die DDA und Raheja Builders vom Kampf der Tradition gegen die Moderne zu sprechen. Zwar verdienen die Bewohner der Colony ihr Geld weiterhin mit Puppenspiel, Tanz und traditionellem Trommeln, wie es ihre jahrhundertealte Tradition ist. Aber die meisten besitzen auch Handys, Fernseher und haben einen Facebook-Account. Auch sie träumen von einem besseren Leben, wie es ihnen in Bollywood-Filmen gezeigt wird. Und genau deswegen, weil nicht wenige der Künstler auch Wert auf die Bildung und Zukunft ihrer Kinder legen, lehnen sie sich auf gegen die Räumung der Kathputli Colony.
Wenn in Delhi weiterhin luxuriöse Einkaufszentren die Armen aus den Stadtzentren verdrängen, verdrängen sie doch nicht das Problem. Das Problem, dass ein Großteil der indischen Bevölkerung andere Sorgen hat als die Frage, ob es den Anschlussflug zum Geschäftsmeeting in Frankfurt trotz der Verspätung noch erreicht.
Irgendwo im Kleingedruckten taucht dann auch noch die Frage auf, wie es eine Kultur mit Tradition und Moderne hält. Doch diese Frage ist eine grundsätzliche, sie beschränkt sich nicht auf die Kathputli Colony und auch nicht auf Indien.
Die für ihre Bewohner existenzielle Frage, was aus der Kathputli Colony wird, beschäftigt mich, als ich am Freitag in Richtung Flughafen fahre. Die Zeichen stehen auf Räumung. Bislang wehrt sich die Mehrzahl der Bewohner gegen einen Umzug.
Wie lange werden sie Erfolg haben können? Was passiert, wenn sie sich weiterhin weigern, umzuziehen, trotz eines möglichen Gerichtsurteiles?
Kommen dann die Bulldozer?


Einen gute Beschreibung der Lage der Kathputli Colony liefert auch „The Australian“:


Eine Petition wurde ins Leben gerufen, um die Forderung der Bewohner nach Transparenz, dem Rückzug der Polizei und ihrem Recht zur Mitbestimmung zu untermauern:


BITTE UNTERSCHREIBT UND ZEIGT SOLIDARITÄT MIT DEN KÜNSTLERN AUS DER KATHPUTLI COLONY!

Eindrücke vom Anmarschieren der Polizisten und den Protesten in der Colony:










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