Heimatbesuch
Teil 1: Charmantes Delhi, entspanntes Rishikesh, wunderbares Rajasthan - und zwischendurch ein unvergesslicher Schulausflug
Die Dame am immigration counter sagt etwas auf Hindi und grinst. Es ist
irgendwann am frühen Morgen, ich bin seit einer gefühlten Ewigkeit wach und
todmüde. Ich schaue sie verständnislos an. Ich verfluche in diesem Moment meine
stark ausbaufähigen Hindikenntnisse und mein Zustand erlaubt es mir nicht
einmal, zu bluffen. Ich gebe mich geschlagen. Sie dreht sich zu ihrem Kollegen,
sagt etwas zu ihm. Beide lachen. Dann habe ich endlich meinen abgestempelten
Reisepass.
Als ich wenig später aus dem
Flughafen trete, wird mir schlagartig bewusst: Ich bin zurück. Es ist
ungemütlich kalt, anders als im September 2012, da lief mir noch der Schweiß
von der Stirn. Aber der Geruch, der in meine Nase steigt, dieser
unbeschreibliche Geruch mit Wiedererkennungswert, er lässt alle Zweifel
verfliegen: Delhi, hier bin ich!
Zurück am Rajiv Chowk zur Rush Hour. Und wieder
heißt es: Mittendrin statt nur dabei.
Zurück in dieser
Millionenmetropole, die scheinbar so gar nichts zu bieten hat. Um Delhis
speziellen Charme zu ergründen, muss man hier länger wohnen. Dann erkennt man,
dass diese Stadt so viele besondere Orte hat, wunderbare und weniger wunderbare.
Mit vielen verbinde ich ein Stück Heimat. Die Metro ist zu den Stoßzeiten immer
noch ähnlich stark bevölkert wie eine Hähnchenmastanlage, im Straßenverkehr ist
der Sportliche weiterhin klar im Vorteil. Delhis Charme ist versteckt, die
Stadt ist in ihrer Hässlichkeit schön.
Viel Zeit der knapp 3 Wochen
verbringe ich damit, Freunde zu treffen, meine alte Gastfamilie zu besuchen und
Zeit in der Schule zu verbringen. Es ist herrlich zurückzukommen, ganz ohne
Zwang, ganz ohne Verpflichtungen. Ich kann mittags zu meiner alten Arbeit
gehen, ohne mich rechtfertigen zu müssen. Ich muss gar nichts machen. Aber ich
kann, wenn ich will.
Zusammen mit meinen beiden
Nachfolgern Clemens und Jonathan und acht älteren Schülern fahren wir nach
Agra. Zum Taj Mahal, einem der sieben modernen Weltwunder, dem Wahrzeichen Indiens. Fast wäre der
Trip in letzter Sekunde geplatzt, weil am Tag vorher die Kathputli Colony, der
Slum, aus dem meine Schüler kommen geräumt werden, geräumt werden sollte (s. vorheriger Eintrag). Die Bewohner
können es verhindern, wir müssen den Ausflug nicht absagen. Frühmorgens geht es
los, in der General Class. Billigste Klasse, wenig Platz. Wir nehmen vorlieb
mit der Gepäckablage. In den folgenden 3 Stunden bis Agra verwandeln die
Schüler unser Abteil in ein Tollhaus. In Deutschland wären wir hochkant aus dem
Zug geflogen, hier nicht. Wir sind die Attraktion des Zuges. Drei Weiße mit 8
aufgedrehten Heranwachsenden.
Kurz danach sehen Harish, Pawan,
Kishan, Sanjay, Ajay, Arjun, Deepak und Ram dann das erste Mal in ihrem Leben
das Taj. Die Kameras laufen auf
Hochtouren, ich merkte einmal mehr, dass ich einen Job als Fotomodel nur im
äußersten Notfall annehmen würde. Wir haben Mühe, die Schüler zum Bahnhof zu
bekommen. Das Taj hat sie in seinen
Bann gezogen. Das sollte sich noch rächen.
Angekommen am Bahnhof bleibt uns
nicht genügend Zeit, um uns in der langen Schlange vor dem Ticketschalter
anzustellen. Wir beschließen, so in die General Class zu gehen. Hoffen, dort
Tickets nachlösen zu können.
Als wir am Gleis ankommen ist ein
Besteigen der General Class auf beiden Seiten des Zuges hoffnungslos. Die
Menschen lachen uns aus den Türen heraus hängend an, mit einer Hand halten sie
sich am Zug fest.
Es ist 16 Uhr, die Schüler müssen
nach Hause. Was machen wir? Wird die Situation im nächsten Zug anders sein?
Wohl kaum! Wir greifen zum äußersten Mittel, steigen ohne Fahrscheine in die Sleeper Class, den günstigsten
Schlafwagen.
Nette Mitfahrer überlassen uns
einige der oberen Liegen, auf denen wir es uns anschließend so bequem wie
möglich machen. Einige der Schüler haben Panik, hatten uns versucht, davon
abzuhalten, ohne Tickets in den Zug zu steigen. Jetzt fahren wir.
Plötzlich sehe ich einen
Kontrolleur. Er verschwindet, taucht nicht wieder auf. Ich drehe mich um und
erschrecke: Im Abteil neben uns steht ein weiterer Kontrolleur. Die Schüler
stellen sich schlafend. Clemens, Jonathan und ich treffen uns zur
Krisensitzung. Diskutieren die Strategie, ergebnislos.
Der Kontrolleur kommt auf mich zu
– und geht an mir vorbei. Kishan, der gegenüber von mir sitzt, öffnet die
Augen, grinst und bietet mir die Hand zum Einschlagen an. Ich traue dem Braten
nicht. Der Kontrolleur wechselt ein kurzes Wort mit einem anderen Passagier,
dreht sich um und kommt direkt auf mich zu: „Ticket!“ Langsam nehme ich meine
Tasche, um auf Zeit zu spielen. Da lässt Clemens die Bombe platzen. Wir hatten
gehofft verhandeln zu können. Stattdessen zeigt sich der Kontrolleur
erbarmungslos. Wir müssen 385 Rupien pro Person bezahlen, bekommen aber dafür
immerhin ein gültiges Ticket bis Delhi. Rund 50 Euro zahlen wir letztlich für
11 Personen, aus deutscher Sicht lächerlich, aus indischer Sicht happig.
Kishans Kommentar, als der Kontrolleur weg ist: „Jetzt will ich aber eine
eigene Liege haben, schließlich haben wir jetzt so viel bezahlt.“
Sein Wunsch blieb unerfüllt. Aber
wir kamen pünktlich in Delhi an, mit 8 erschöpften Jungs. Auf dem Weg zur Metro
meinte Pawan: „Diesen Tag werde ich nie vergessen.“ Warum, ließ er offen. Sein
schelmisches Grinsen sprach indes Bände.
Geht es auf einen Schulausflug, machen sich die
Schüler immer besonders schick. Hier Pawan und
Kishan...
...dort Harish und Sanjay.
Ajay (Mitte) hat das Potenzial zum Comedian...
...genauso wie zum höchst seriösen Touristenführer.
Und dann hieß es: Bye, bye, Taj Mahal!
Am nächsten Tag holte die Schüler
der Alltag wieder ein.
An einem meiner letzten Tage hatte Rohit Geburtstag...
...und bekam den obligatorischen
Geburtstagskuchen ins Gesicht geschmiert.
Am Wochenende vor unserem Agra-Trip war ich bereits
im spirituellen Yoga-Ort Rishikesh am Ganges gewesen.
Am Wochenende nach dem Schulausflug fuhr ich zusammen mit
acht der neuen deutschen Freiwilligen nach Jaisalmer.
17 Stunden Zugfahrt in eine Stadt
in der Wüste Thar, nicht weit entfernt von Pakistan. Häuser und eine Festung
aus Sandstein, herrlicher Sonnenschein. Am Samstagmorgen brachen wir auf zu
einer Kamelsafari durch die Wüste, wie mit Hosen wie Aladin in 1001 Nacht und
mit einem Lagerfeuer am Abend unter Sternenhimmel.
Angekommen am Bahnhof...
...wurden wir gleich von Fahrern begrüßt, die uns
sofort in ihr Hotel lotsen wollten.
Vorbereitung auf die Kamel-Safari: Beim Kauf der
"Ali-Baba-Hosen"
Die Häuser sind alle aus Sandstein gebaut.
So natürlich auch die Festung.
Start in die Wüste
Auf dem Rückweg entschloss ich
mich spontan, in Jodhpur auszusteigen und noch einen Tag in der „blauen Stadt“
zu verbringen. Diesen Namen verdankt die Stadt mit einer tollen Burganlage der
Tatsache, dass viele Häuser mit blauer Farbe angestrichen sind. Durch das
geschäftige für indische Verhältnisse mittelgroße Jodhpur lohnte es sich auch
einfach zu schlendern und die an der 30-Grad-Marke kratzenden Temperaturen zu
genießen.
Blick auf die Burg
Der Uhrenturm der Stadt.
Abschied von der Burg am Abend.
Auch Delhi ist gerade dabei sich
aufzuheizen, die Temperaturen steigen fast unaufhörlich, bis sie Anfang Mai
dann die 45-Grad-Grenze knacken dürften. Ich erlebte die Stadt zu ihrer wohl
schönsten Jahreszeit.
Während meines Aufenthalts konnte
ich fast vergessen, dass ich von Indien, aber insbesondere Delhi, im August
letzten Jahres genug hatte. Ohne jeglichen Stress lässt sich der Lärm und das Chaos noch besser
ertragen – vorausgesetzt, man ist ihn gewohnt und kann die hupenden Autos und
aufdringlichen Verkäufer oder Rikshaw-Fahrer mit einem gelassenen Lächeln
hinnehmen. Einzelne Orte, mögen sie aus objektiver Sicht auch überhaupt nicht
schön sein, rufen Erinnerungen hervor oder verkörpern einfach ein Stück Heimat.
Ein Stück Heimat, dass sich in
den nächsten Jahren teilweise rasant verändern dürfte. Die Wahrscheinlichkeit,
dass die Kalakar Vikas School bei
meinem nächsten Besuch noch neben der (alten) Kathputli Colony besuchen werde, tendiert gen Null. Umso schöner
war es, alles noch einmal zu sehen.
Symbol der Gegensätze: Die Pacific Mall von innen...
...und außen.
Eines ist sicher: Es war nicht
mein letzter Besuch in Delhi und in Indien. Wann der nächste ist, steht noch in
den Sternen. Die Sterne sagen aber: Es wird nicht ewig dauern. Zu lange kann
ich nicht abstinent bleiben.
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