Sonntag, 19. Mai 2013


Eine Reise in fünf Akten


Samstagmorgen, 04. Mai, 06.20 Uhr: Abflug aus Delhi. Bei meinem dritten Aufenthalt am Indira Gandhi International Airport von New Delhi nehme ich erstmals den Abzweig zum Terminal für Inlandsflüge.



Zusammen mit Tine, einer Mitfreiwilligen von meiner deutschen Organisation VIA, steige ich in die IndiGo-Maschine mit Ziel Kochi in Kerala, dem südwestlichsten Bundesstaat des Subkontinents. Ganz nach dem Werbespruch „GoIndiGo“ haben wir die laut Eigenwerbung „demokratischste Airline Indiens“ gewählt – hier gibt es keine Zwei-Klassengesellschaft, alle fliegen in der Economy Class. IndiGo ist eine Billigfluglinie, aber der Vergleich mit Ryanair hinkt, etwas mehr Komfort ist dann doch geboten. GermanWings trifft es wohl besser.

Über den Wolken.

Der gut einwöchige Urlaub in Südindien beginnt allerdings schon am Flughafen von Delhi mit einem Ärgernis. Vor dem Security Check bittet mich die zuständige Dame, mein Handy aus der Tasche zu nehmen. Das Problem: Ich hatte mal ein Handy. Nun freut sich wahrscheinlich der Taxifahrer über ein Schnäppchen. Wir rufen ihn zwar noch an, aber der arme Mann scheint noch nie das Wort „mobile phone“ gehört zu haben. Was für eine Bildungslücke in einem Land, in dem selbst im Slum fast jeder ein phone hat.
Was soll’s, sage ich mir, das kann mir den lang ersehnten Urlaub nicht vermiesen. Endlich raus aus der brütenden Hitze Delhis mit den zu diesem Zeitpunkt Toptemperaturen bis zu 40 Grad Celsius. Raus aus Smog, Lärm und Müll. Auf in Indiens reichsten Bundesstaat!
Kerala hat alles zu bieten: Strand, Backwaters, Nationalparks und Berge.
Und ein anderes Klima, das in Kochi aber nicht unbedingt angenehmer ist als in Delhi. Es ist zwar ein paar Grad kühler als in Delhi, aber dafür jetzt schon schwül – der Monsun startet seinen Streifzug über den Subkontinent schließlich im Südwesten.
Vom Kochi International Airport brauchen wir noch einmal rund zwei Stunden ins Fort Kochi. Zur Millionenstadt Kochi gehört auch Ernakulam, aber den eigentlichen Reiz macht das Fort aus.
Kleine enge Straßen, auf denen – ganz anders als in Delhi - kaum Müll liegt, dazu viele bunte Häuser und ein hübscher Hafenbereich.

Chinesische Fischernetze im Fort.

Wir halten uns vorerst aber nicht länger im irgendwie verschlafenen Kochi auf, sondern nehmen die Autofähre (Fahrzeit: ca. fünf Minuten) nach

VYPEEN

Vypeen ist eine Insel, die dem Reiseführer Lonely Planet zufolge „unberührten, weißen Sandstrand“ zu bieten hat. Nun, darunter verstehen Tine und ich dann doch etwas Anderes, als das, was wir vorgefunden haben.
Doch obwohl an manchen Stellen Müll lag, konnte man am Cherai Beach entspannen. Manchmal fanden Sonnenstrahlen den Weg durch die Wolkendecke und fielen auf die hohen, schäumenden Wellen, die die Küste erreichten. Dazu waren wir fast die einzigen ausländischen Touristen – wir waren einmal mehr mittendrin in diesem Land. Und wenn ich gerade nicht ins Meer hinausschwamm, beobachtete ich zusammen mit Tine die indischen Strandbesucher. Die Frauen gingen maximal bis zu den Knien ins Wasser, ohne dabei allerdings ihre Gewänder hochzukrempeln. Die Männer waren da mitunter schon „freizügiger“, einige von ihnen gingen sogar in Shorts und mit freiem Oberkörper ins Wasser – ein Glück für mich, denn anders als Tine konnte ich so ganz normal baden. Allerdings gab es auch die männlichen Kandidaten, die sich mit Jeans und T-Shirt in die Wellen schmissen. Eine verrückte Badekultur, wenn man es denn so nennen kann. Ich war jedenfalls ein Exot, indem ich ins offene Meer hinausschwamm.




Eine Nacht am Cherai Beach genügte uns, denn – so schön es auf der einen Seite auch war – viele Hotels und Restaurants waren mit Renovieren beschäftigt. Die Saison geht nämlich hier nur bis März.
Dennoch wollten wir nichts unversucht lassen, den „weißen, unberührten Sandstrand“ zu finden und fuhren mit einer völlig überteuerten Rikscha ans andere Ende des Strandes.
Außer einer kleinen Bucht, Steinküste sowie geschlossenen Hotels und Restaurants gab es hier nichts, weshalb wir unsere Reise fortsetzten und per Rikscha und Fähre zurück nach Fort Kochi fuhren.

Auf der Suche nach dem "weißen, unberührten
Sandstrand".

Hier verbrachten wir die Mittagszeit mit der verzweifelten Suche nach einem preiswerten, aber ordentlichen Restaurant, das wir letztlich in Ernakulam in der Nähe des Busbahnhofes finden sollten. Dabei waren wir eigentlich schon in Fort Kochi erfolgreich gewesen. Leider nur eigentlich. Denn als wir im nun legendären Seaface-Restaurant bestellen wollten, wurden wir schlichtweg ignoriert, selbst nach dem zehnten Excuse me. Eine andere Restaurantbesucherin brachte den einen Kellner zumindest dazu, mit uns zu kommunizieren. Kommunizieren bedeutete in diesem Fall allerdings, dass er anstatt mit uns zu reden irgendwelche komischen Handbewegungen machte. Wir hatten genug gesehen und machten uns per Bus auf den Weg nach´

Ein überdimensionales Wahlplakat auf dem Weg.

ALLAPUZAH (ALLAPEY)

Allapuzah wurde vom Lonely Planet als entfernter Verwandter Venedigs gepriesen. Obwohl ich Venedig noch nie gesehen habe, könnte der Vergleich sogar passen.

Eine Wasserstraße in Allapuzah.

Die Stadt wird von Kanälen durchzogen, die außerhalb zu den berühmten backwaters werden. Auf diese backwaters fuhren wir am dritten Tag unserer Reise hinaus – mit dem Kanu und einem Bootsmann, der uns auch das Leben abseits der Hauptwasserstraßen zeigte.
Die passendste Beschreibung des Begriffes backwater liefert das PONS-Onlinewörterbuch: Der Ort, an dem die Uhren still stehen.
Auf den breiteren Kanälen begegneten wir immer mal wieder größeren Hausbooten, aber die kleinen Seitenarme waren die willkommene Flucht in die reine Natur. Es herrschte eine Ruhe, wie ich sie letztmals wohl in Deutschland genossen habe. Kleine, schmucke und farbenfrohe Häuser säumten das Ufer. Vereinzelt badete ein Mann im Wasser oder eine Frau wusch Kleidung. Ansonsten schien das Leben weitestgehend still zu stehen.

Anwohner bei der Arbeit.

Auch im größten Idyll ist Vodafone allgegenwärtig.

Ein Mann bei der Fruchternte.



Unser Bootsmann und Reiseführer.

Wir waren nicht ganz allein auf dem Wasser.

Nicht nur Kühe und Mütter geben Milch.

Da können wir ja nur vorankommen.

Inmitten dieser Idylle legten wir einen Zwischenstopp ein und tranken Kokosnuss-Milch direkt aus der Frucht. Das ist der Moment, an dem man fühlt, dass man im Urlaub ist.
Am frühen Abend war unsere Tour beendet. Weil Allapuzah außer backwaters nicht allzu viel zu bieten hat, entschieden wir uns, in die Berge zu fahren, in das Periyar Wildlife Sanctuary, einen Nationalpark an der Grenze zum Bundesstaat Tamil Nadu.
Der einzige Bus in den Ort Kumily fuhr um 6.40 am frühen Morgen ab, weshalb Tine ihren Wecker auf 6 Uhr stellte. Geweckt wurde ich allerdings mit den Worten: „Benny, unser Bus fährt jetzt gerade ab.“ Es war 6.40, wir hatten verschlafen. Wir ließen uns nun ein wenig Zeit und disponierten um. Uns blieb nichts anderes übrig, als einen Umweg über Kochi in Kauf zu nehmen. Um 8 Uhr kamen wir am Busbahnhof an und ich fragte den nächstbesten Bus, ob er nach Kochi fahre. „No, Kumily“, war die Antwort.
Zwei Minuten später, und der Bus wäre weg gewesen. Gibt es das Schicksal vielleicht doch? Bis heute wissen wir nicht, ob der Bus einfach nur anderthalb Stunden zu spät war oder noch ein zweiter eingesetzt wurde.
Sei’s drum, wir kamen dank unseres perfekten Timings auf direktem Weg nach

KUMILY

 Der kleine Ort am Rande des Nationalparks dürfte während der Saison hoffnungslos überlaufen sein, wenn man die Fülle an Hotels hier betrachtet.
Als wir da waren, war es herrlich. Angenehm kühle Temperaturen, sodass wir auf der Busfahrt hinauf in die Berge schon leicht froren. Der schäbige Bus schlängelte sich die engen Bergstraßen hinauf, vorbei an steilen Abhängen und grünen Teeplantagen. Die Flucht hinaus aus der lauten, schmutzigen Stadt in die Natur war uns spätestens hier endgültig gelungen.
Wir ließen uns in einer Ansammlung von Bambushütten nieder, die von Bäumen und einem freien Feld umgeben waren. Abends bekamen wir sogar Besuch von einem Frosch.


Bei der anschließenden Wanderung durch den Nationalpark konnten wir endlich das nachholen, was wir auf unsere bisherigen Reise und ich angesichts der Temperaturen in Delhi vernachlässigt hatten: Sport! Wobei wir uns schon wunderten, warum für eine 15 Kilometer lange Wanderung durch die Berge neun (!) Stunden veranschlagt waren. Die Antwort war ziemlich simpel: Eine zweistündige Mittagspause war eingeplant, während der unsere zwei Führer und der Begleitpolizist (Ja, mehr Begleiter als Besucher) schliefen. Trotz der vielen Pausen war ich abends zumindest etwas müder als normal. Nur einen Tiger oder Elefanten haben wir nicht zu Gesicht bekommen, aber immerhin frei lebende Bisons.

Anwohner bei der Honigernte im Nationalpark.

Blick auf Kumily.

An der (Wasser-)Quelle.

Unsere nächste Busfahrt sollte am nächsten Morgen komplett durch die bergigen Westghats gehen. Über schmale Straßen in atemberaubender Höhe fuhren wir weiter in eines der weltweit höchst gelegensten Teeanbaugebiete nach

MUNNAR

Auf dem Weg dorthin passierte an einer Steigung dann das, was eigentlich schon viel eher hätte geschehen können. Unser maroder, staatlicher Bus gab den Geist auf. Zum Glück war er nur so voll, dass man die geschätzt rund fünfzehn Passagiere in einen Jeep zwängen konnte, der uns auf eine Straße brachte, in der wir in einen weiteren Bus nach Munnar einsteigen konnten.

Diagnose: Motorschaden.

Munnar ist für indische Verhältnisse ein kleiner Ort, hat aber immer noch mehr als doppelt so viele Einwohner wie Cloppenburg. Der Ort selbst ist nicht wirklich hübsch, er ist belebt und eng und es wimmelt nur so von Tee- und Gewürzläden.
Sobald man aber nur einige hundert Meter aus dem Ortskern herausfährt, taucht man ein in das Grün der Teeplantagen. Ein kühles, wenn auch feuchtes Klima mitten in den Westghats – Luft holen, bevor es zurück nach Delhi geht!
Von Munnar habe ich leider keine Fotos, weil ich meine Kamera beschädigt habe und wir - warum nur? - kein Fotohandy mehr bei uns hatten. Wer die Schönheit Munnars sehen will, muss also selbst hinreisen.
Zwei Nächte wollten wir bleiben und an dem vollen Tag, der uns blieb, unser Sportprogramm fortführen. Deshalb machten wir uns am Nachmittag nach unserer Ankunft auf die Suche nach Fahrrädern, was einer Odyssee gleichkam. Endlich hatten wir über einen Kontaktmann des Touristenbüros ein Rad organisiert und uns mit ihm für zehn Uhr am nächsten Morgen verabredet. In einem Hotel, das ein Rad verfügbar hatte, bestätigten wir einem Kollegen unseres ersten Ansprechpartners die Leihe für den nächsten Tag.
Mit einstündiger Verspätung wurden wir schließlich in den Ortskern zitiert, um das Fahrrad abzuholen. Aus praktischen Gründen wollten wir zuerst das versprochene zweite Rad leihen. Leider war uns jemand anders zuvor gekommen. Da der eine Mitarbeiter aber ein schlechtes Gewissen hatte, wurde uns in Null-Komma-Nix ein plötzlich doch verfügbares zweites Rad organisiert. Es war mehr oder weniger fahrtüchtig. Anders das Fahrrad, das wir anschließend abholten. Bis auf die Stoßstange ist es aber nicht auseinander gefallen – und aufgrund seines Zustandes bekamen wir es umsonst. Alles andere wäre nicht fair, meinte unser Kontaktmann. Wo er Recht hat, hat er Recht.
Mit zwei Rädern ohne Gangschaltung und mit bedingt funktionierenden Bremsen schnauften wir die Berge hoch. Irgendwo hin, Hauptsache Natur. So kam es, dass wir – nachdem wir ein paar Dörfer hinter uns gelassen hatten – mitten in der Wildnis landeten, auf einem einsamen Pfad, auf dem uns anfangs noch vereinzelt Menschen entgegen kamen, die Holz sammeln waren. Wir machten Rast an einem gruseligen Ort, an dem ein Dreizack und Kleidung lagen. Wir schoben die Räder über einen unebenen Sandweg ehe wir schließlich eine geteerte Straße, die nach Munnar zurückführte fanden. Noch ein mörderischer Anstieg lag vor uns – und dann hieß es „Freie Fahrt für frei Bürger“. Die sieben Kilometer zurück nach Munnar konnten wir uns einfach die kurvige Bergstraße hinunterrollen lassen. Freiheit pur!
Und irgendwie das inoffizielle Ende des Urlaubs abseits der Stadt. Denn am Samstag ging es noch einmal zurück ins Fort nach

KOCHI

Wie gesagt, Kochi hat einen unwiderstehlichen Charme. Kleine Straßen, Relikte aus der Zeit des Kolonialismus und ein Stück Strand, das zumindest mit dem Cherai Beach mithalten kann. Dazu leckere Restaurants und viele Kirchen – in Kerala gibt es deutlich mehr Christen als im Norden Indiens und im Delhi. Dazu kaum Bettler, nicht umsonst ist es der reichste Bundesstaat Indiens. Ein weitgereister Restaurantbesitzer hat uns seine durchaus schlüssige Erklärung dafür gegeben, aber das führt jetzt zu weit. Vielleicht greife ich es an anderer Stelle noch mal auf.
Gut ein Tag blieb uns, ehe wir von Kochi Abschied nehmen mussten. Ängstlich stiegen wir in den Flieger zurück nach Delhi. Wir hatten von der drohenden Temperaturexplosion gehört. Umso überraschender war es, als der Pilot vor dem Landeflug verkündete, es herrschten angenehme 26 Grad. Okay, wir landeten auch um 23 Uhr. Am nächsten Mittag sollte es schon wieder deutlich heißer sein. Aber immerhin nicht heißer als vorher, Delhi hatte sich zwischenzeitlich wieder etwas abgekühlt.
Heute haben wir dagegen einen vorläufigen Hitzerekord. Das Thermometer zeigt 45 Grad.

Und hier noch mein neuester NWZ-Artikel über "meine" Kinder: http://www.nwzonline.de/cloppenburg/bildung/schon-kinder-pflegen-ellenbogenmentalitaet_a_5,1,1795211454.html

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