Kinderhochzeit mit verwunderlichen Traditionen
Es wird immer heißer in Delhi, für das kommende Wochenende
prognostiziert der Wetterdienst das Erreichen der 40-Grad-Celsius-Marke. Gerade
rechtzeitig fliege ich also mit einer Freundin für gut eine Woche nach Kerala
in Südindien. Kerala, das heißt: Sandstrand, Backwaters und vergleichsweise
milde 33 Grad. Wenn ich dann wiederkomme, erlebe ich die voraussichtlich
heißeste Zeit im „Hitzekessel“ Delhi. Der Mai und Juni, so heißt es, sind die
unangenehmsten Monate, weil es heiß und trocken ist. Sobald der Regen einsetzt,
wird die Hitze etwas erträglicher. Warten wir’s ab!
Mit der klimatisch heißen Zeit endet allerdings eine andere
„heiße“ Zeit, nämlich die Hochzeitssaison. Bei den momentan noch halbwegs
erträglichen Temperaturen bin ich Zeuge einer weiteren Hochzeit geworden,
diesmal in Kathputli Colony, dem Slum neben unserer Schule. Zwei Brüder eines
bereits verheirateten älteren Schülers haben geheiratet. Natürlich nicht
untereinander, versteht sich. Auf das Gesetz hat die Familie dabei nicht so
viel Wert gelegt. Demnach dürfen Männer erst im Alter von 21 Jahren heiraten,
Frauen müssen 18 sein. Ein Bräutigam war wenigstens schon 20, was nach
deutschem Recht immerhin legal wäre, der andere dagegen erst 15.
Was mich auch zu der Frage gebracht hat, ob ich es moralisch
vertreten kann, so eine Hochzeit mit den Angehörigen zu feiern? Abgesehen
davon, dass ich vom Alter der Bräutigams erst auf der Zeremonie selbst erfahren
habe, konnte ich diese Frage recht schnell für mich beantworten. Die Hochzeit
hätte auch ohne meine Anwesenheit stattgefunden, und die Einladung anzunehmen,
war für mich ein Akt der Höflichkeit. Indem man der Hochzeit fern bleibt,
ändert man nichts in den Köpfen der Menschen.
Dass es aber offenbar möglich ist, etwas zu verändern, zeigt
das Beispiel eines anderen Schülers von mir. Pawan ist 14 und soll laut eigener
Aussage erst heiraten, wenn er Ende 20 ist, genauso sein kleiner Bruder Rohit.
Einer seiner älteren Brüder wurde dagegen vermählt, als er gerade einmal sieben
(!) Jahre alt war. Ich habe mir die Zahl mindestens dreimal bestätigen lassen.
Anscheinend haben seine Eltern ihre Meinung geändert oder
sich von Pawan überzeugen lassen, der sagt: „Das ist unsere Tradition, aber ich
finde sie nicht gut.“ Es wäre auch schade, wenn der talentierte Junge jetzt
oder in wenigen Jahren schon heiraten müsste.
Ich habe Pawans Eltern kennengelernt und sie waren sehr
glücklich, als ich ihnen erzählt habe, dass ihr Sohn sehr gut Gitarre spielt.
Die Mutter war stolz auf ihre beiden Söhne und froh, dass sie sich zumindest
rudimentär mit mir auf Hindi unterhalten konnte. Erneut durfte ich die
Gastfreundlichkeit im Slum genießen. Mir wurde nicht nur Tee, sondern sogar ein
einfaches Abendessen serviert, weil die eigentlichen Hochzeitsfeierlichkeiten
erst um 2 Uhr nachts anfingen und ich mächtig Hunger hatte. Und ich wurde sogar
eingeladen, dort anschließend zu übernachten, weil sich die Mutter sorgte, mich
nachts um halb fünf mit der Auto-Rikscha alleine nach Hause fahren zu lassen.
Ich habe das Angebot abgelehnt, nicht weil ich dort nicht übernachten würde,
sondern weil ich Tabletten gegen meinen Husten brauchte und ein extremes
Schlafdefizit auszugleichen hatte.
Die Gastfreundschaft ist ein sehr schöner Teil der indischen
Kultur, aber es gibt auch andere (angeblich) kulturelle Gepflogenheiten oder
Traditionen, mit denen ich mich weniger anfreunden kann.
Dazu gehört das Ritual, während des Tanzes Geld um die Köpfe
der Tänzer kreisen zu lassen, um es anschließend in die Luft zu werfen. Die
umstehenden Kinder sammeln das Geld schließlich ein. Wobei „Einsammeln“ ein
Euphemismus ist für das, was ich gesehen habe: Die Kinder haben sich heftig
geprügelt um die umherflatternden Zehn-Rupien-Scheine, und wenn es einem
Erwachsenen zu viel wurde, schlug er dazwischen. Nun sind zehn Rupien (ca. 14
Cent) an sich nicht viel Geld. Allerdings wurden die Scheine in Massen
verteilt, die angesichts der Lebenssituation im Slum zunächst surreal
erscheinen. Angeblich hat der Bruder des Bräutigams 35000 Rupien (umgerechnet
rund 500 Euro) allein dafür ausgegeben an diesem Abend. Ich weiß natürlich
nicht, ob diese Zahl stimmt, auf die Angaben hier kann man sich nicht
verlassen. Pawan zum Beispiel hatte aber 1000 Rupien (gut 14 Euro) für
denselben Zweck dabei. Mir fiel ein, dass er vor nicht allzu langer Zeit gesagt
hatte, ich sei reich, weil ich in meiner Wohnung eine Gitarre für 3000 Rupien
stehen hätte und er nicht. Als ich ihn daran erinnerte und fragte, warum er das
Geld nicht besser für eine eigene Gitarre spare, verwies er mich nur auf die
Tradition. Was sollte ich da noch antworten?
Jedenfalls hat mir die Hochzeit verdeutlicht, dass in
Kathputli Colony die Prioritäten anders gesetzt werden als bei uns. Priyanka,
eine meiner Kolleginnen, meint: „Das ist der reichste Slum in Delhi. Man kann es
kaum Slum nennen. Die Menschen dort verdienen teilweise gutes Geld.“ Wer
zunächst nur die Lebensbedingungen der Menschen sieht, wird sie für verrückt
erklären. Auf einen beträchtlichen Teil der Colony-Bewohner trifft ihre Aussage
meiner Einschätzung nach aber zu. So auch auf die Familie des Schülers, dessen
Brüder geheiratet haben.
Anders als bei uns ist es nicht üblich, Geld zu sparen oder
es in ein schönes Eigenheim zu investieren. Zu viel Geld geben die Slumbewohner
sicherlich für Alkohol und Drogen aus, aber auch die Hochzeit hat
offensichtlich eine enorme Summe verschlungen. Sie ähnelte in vielerlei
Hinsicht der von Gagan, auch dieses Mal gab es eine Kutsche und sogar einzelne
Pferde, auf denen einige Gäste reiten durften, unter anderem ich. Wir führten
den Umzug aus dem Slum ins irgendwo außerhalb aufgebaute, recht einfache
Festzelt an. Um halb fünf am Sonntagmorgen konnte ich endlich nach Hause, denn dann
war das Festessen beendet. Kein Wunder, schließlich hatte die Zeremonie erst
gegen zwei Uhr nachts begonnen. Aufgrund
des Todes einer Slumbewohnerin hätte es Veränderungen im Ablauf gegeben,
erklärte mir ein Schüler. Als ich nachfragte, wie diese denn gestorben sei,
bekam ich die Antwort: „Durch einen bösen Geist.“ Da konnte und wollte ich
nicht weiter nachfragen. Die große Schwester der Tradition ist eben häufig die
Religion.
Wobei Tradition immer relativ ist: Ich war der einzige, der
eine traditionelle indische Khurta trug. Während wir auf den Beginn der
Feierlichkeiten warteten, bekam ich einen roten Punkt auf die Stirn und einen
Turban umgebunden und sah danach je nach Auge des Betrachters wie ein echter
„Rajasthani“ (Bewohner des größten indischen Bundesstaates, aus dem auch die
Künstler aus Kathputli Colony ursprünglich kommen) oder wie ein „Haryana Man“ aus
(Bundesstaat westlich von Delhi). Im neuen Outfit durfte ich dann schon einmal
Probesitzen auf dem Pferd, wobei sich das unerwartet in die Länge zog – einem
kleinen indischen Jungen, der zu mir auf das Pferd gehoben wurde, sei Dank.
Nach einer Weile fragte ich ihn, ob wir wieder absatteln wollten, doch er
lehnte dankend ab. Ich fragte ihn danach immer mal wieder. Seine Antwort blieb
stets gleich, wobei er irgendwann klang, als dächte er: Wie dumm ist der denn,
dass er mich immer wieder fragt? Zum Glück wurden die Pferde müde, sodass wir
nach gefühlten zwanzig Minuten runter mussten – bzw. durften.
Meine traditionelle Kleidung an diesem Tag hatte jedenfalls
Eindruck hinterlassen. Viele der kleineren Schüler hatten mich gesehen und
sogleich freudig begrüßt – ich kam mir zwischendurch vor wie Justin Bieber, was
mir allerdings nicht sonderlich behagte (Warum bloß?). Als ich dann am Montag
in die Schule kam, strahlten mich viele Gesichter an und meinten: „Sir ji, schadi*? Khurta aur* pagadi* - very
nice!“
*ji – besondere
Höflichkeitsform; schadi – „Hochzeit“
auf Hindi; aur – und; pagadi – Turban
Ich habe leider keine Fotos, weil ich mich nicht getraut
habe, meine Kamera mitzunehmen. Angesichts der Kämpfe um Geld haben sich meine
Sorgen als nicht ganz unbegründet erwiesen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen