Sonntag, 17. März 2013

Mit kontrollierter Offensive die Führung verteidigen


Die zweite Halbzeit läuft, aber sie ist noch jung. Nachdem Zwischenseminar, meiner ganz persönlichen Halbzeitpause, habe ich die längste Zeit in Delhi hinter mir. Fünf Monate und genau eine Woche bleiben, ehe ich in Düsseldorf wieder deutschen Boden betrete.
Die erste Halbzeit war gut, ich liege in Führung. Mein Gegner – das ist die Spielvereinigung aus Heimweh, Krankheit, allgemeiner Unzufriedenheit und schlechten Erfahrungen – konnte einige Nadelstiche setzen, mehr aber auch nicht. Nur in der Anfangsphase war meine Verteidigung etwas ungeordnet, von Minute zu Minute hat sie sich stabilisiert. Die Halbzeitpause hat mir die Möglichkeit gegeben, noch einmal zurückzublicken und die ersten Monate Revue passieren zu lassen.
Als ich vor knapp einem Jahr die Zusage für Indien bekam, wurde es konkret. Ganz konkret ungewiss. Was würde mich erwarten? Würde ich ein Jahr lang durchhalten, soweit weg von der Heimat, von Familie und Freunden?
Die erste Woche fällt aus der Wertung, dafür hatte ich zu viele Eindrücke zu verarbeiten. Meine Gefühle und Gedanken fuhren Achterbahn, allein das ist in meinem Gedächtnis hängen geblieben. Die zweite Woche ließ zum bisher einzigen Mal echte Zweifel aufkommen, was dem Dengue-Fieber geschuldet war. Meine Verteidigung wankte und ließ den einen oder anderen Hochkaräter der gegnerischen Mannschaft zu. Es konnte nur besser werden.
Und das wurde es auch: Von Tag zu Tag habe ich mich mehr an das Leben hier gewöhnt, an den Lärm, die Fülle an Menschen und kulturelle Unterschiede. In der Arbeit kam ich mir am Anfang etwas nutzlos vor und wusste nicht so recht, was ich machen sollte. Mittlerweile hat sich das zum Glück geändert. Meine Hindi-Kenntnisse sind zwar immer noch nur geringfügig besser als die Englischkenntnisse meiner Schüler, aber mit der Zeit habe ich Methoden entwickelt, halbwegs sinnvolle Themen zu unterrichten. Vielleicht bleibt bei manch einem Schüler ja sogar dauerhaft etwas hängen.
Wie der Unterricht abläuft, hängt aber auch immer von den verschiedenen Schülern sowie deren und meiner Tagesform ab. Letzte Woche habe ich den Schülern die Geographie Indiens etwas näher gebracht. Sie sollten eine Karte beschriften und anschließend verschiedene Teile ausmalen, dazu an den Rand den Satz „I love Pakistan“ schreiben… Nein Spaß, so revolutionär will ich dann doch nicht sein. Sie haben lediglich die indische Flagge gemalt. Und während einige Schüler verstanden haben, dass sie Delhi, Mumbai und den Bundesstaat Rajasthan von der aufgehängten politischen Karte auf ihr Papier übertragen sollten, fiel der Groschen bei anderen gar nicht oder sehr spät. Richtig glücklich war ich, als ein Schüler einmal eine ganz eigenständige Idee umgesetzt hat – eine Rarität, die wohl nicht zuletzt dem Bildungssystem geschuldet ist.  Ohne mich vorher zu fragen, malte er das indische Staatsgebiet in den Farben der Flagge aus – ich war begeistert!
Doch abgesehen vom Unterricht, in dem mir die Kinder hin und wieder immer noch auf die Nerven gehen, habe ich sie richtig lieb gewonnen. Und sie geben mir gelegentlich sogar Tipps: Gautam, einer der schlimmsten Prügler, der aber eigentlich ein ganz lieber Junge ist, hat mir zum Beispiel über mein Gesicht gestrichen, um festzustellen, dass ich mich doch mal wieder Rasieren müsse. Und wenn ich zusammen mit den Puppenspielern meine ganz persönliche Holzpuppe bastle, können sie immer gar nicht nachvollziehen, warum ich mir von ihnen nicht helfen lassen will.
Abgesehen vom Schulalltag, der nach der Halbzeitpause so richtig gut angelaufen ist, läuft auch sonst alles nach Plan. Oder doch nicht? Eigentlich hatte ich weder für die erste  Halbzeit eine lehrbuchmäßige Taktik noch habe ich eine für die zweite. Selbst die Initiative zu ergreifen, ohne etwas zu überstürzen, lautet meine Devise. Immer Vorsicht walten lassen, und doch so aktiv sein, dass ich das Spiel vom eigenen Tor fernhalte.

Ich fühle mich in Delhi mittlerweile schon wie zu Hause. Eine Art zweites Zuhause, fern der Heimat. Meine Heimat wird es nie werden, mein Zuhause ist es jedoch schon. Ich habe viele tolle Menschen kennengelernt und einige wenige nicht so tolle. Ich habe viele tolle Erlebnisse gehabt und einige wenige nicht so tolle. Der positive Eindruck überwiegt.
Und trotzdem – obwohl es zurzeit mein Zuhause ist - kann ich mir nicht vorstellen, für längere Zeit in Delhi zu leben. Ein Freiwilliger aus Kirgistan hat mich das gefragt, allerdings in Bezug auf ganz Indien. Für mich ist klar: Ich kann mir vorstellen, irgendwann auch mal für länger als ein Jahr im Ausland zu leben. Es gibt so viele spannende Länder, Indien ist eines davon. Doch nach Delhi will ich nicht noch einmal für längere Zeit. Nicht, dass mir die Stadt nicht gefällt. Ich habe sie schon mögen gelernt, vielleicht liebe ich sie am Ende des Jahres ja sogar. An Delhi stört mich einzig und allein der Smog. Den werde ich mir und meiner Lunge nicht noch einmal über einen längeren Zeitraum hinweg antun.
Obwohl ich mich hier – mit dieser einen Ausnahme – also richtig wohl fühle, habe ich anders als andere Freiwillige keine Angst vor der Rückkehr. Vielleicht bin ich etwas naiv, denn viele unserer Vorgänger sagen, der Kulturschock, wenn man zurückkommt, sei viel größer als der, den man bei der Ankunft im Gastland erlebt.
Eine wichtige Rolle bei der „Reintegration“ in Deutschland spielt sicherlich auch die Frage, ob ich mich verändert habe. Bestimmt irgendwie, aber ich merke es selbst nicht. Sicherlich habe ich einige Sicht- und Denkweisen verändert, aber ich glaube und hoffe, dass ich trotzdem noch der Alte bin. Letztendlich müssen das aber andere beurteilen. Ich bin schon gespannt, was meine Familie sagt, die in ein paar Stunden ankommt – die Vorfreude steigt von Minute zu Minute.
Der Besuch kommt passend zum Beginn der zweiten Halbzeit. Nach der Abreise der Familie sind es nicht mal mehr 5 Monate, die mir bleiben. Zeit, die ich nutzen will. Was ist die beste Strategie? Auf Defensive umzustellen, den Gegner kommen zu lassen, um dann blitzartige Konter zu fahren? Eher nicht. Für Konter müsste der Gegner mir erst einmal Räume bieten, doch wenn ich von Heimweh, Krankheiten oder depressiver Stimmung zurückgedrängt bin, kann es schwierig werden.
Dann vielleicht einfach weitermachen wie bisher? Kontrollierte Offensive schwebt mir vor, um im Fußballjargon zu bleiben. Aus einer soliden Deckung heraus überlegte und zielsichere Angriffe zu fahren. Ein Überraschungsmoment, ein bisschen Spontaneität ist da sicherlich nützlich. Nicht alles lässt sich kontrollieren. Aber sollte ich einmal auf einen Gegner auflaufen, ist es wichtig, dass der Gegenangriff sofort abgefangen wird und keine bleibenden Schäden – im Spiel: ein Tor – hinterlässt.
Gelingt mir das weiterhin, werde ich am 24. August mit einem lachenden und einem weinenden Auge das Flugzeug in Richtung Dubai besteigen.


1 Kommentar:

  1. Hallo Benny, danke für den interessanten Beitrag. Ist die Indien-Karte von Joey im Einsatz?
    Wünsch Dir viel Spaß mit Deiner Familie!
    Und das nächste Mal, bitte ein paar Fotos von der neuen Wohnung.
    Gruß an den Kameraden, adios, gloria.lindberg@gmail.com

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