Montag, 4. Februar 2013


Wenn der Slum in die Metro kommt


Kinder, die in der Metro herumlaufen und manch einen anderen Passagier mit irgendeiner Albernheit nerven, sind nichts Ungewöhnliches. Die wenigsten beschweren sich darüber, schließlich bringt man den Kleinsten der Gesellschaft normalerweise etwas mehr Verständnis entgegen. Außerdem kommen in der Metro häufig die verschiedensten Menschen zusammen: Alt trifft auf Jung, Dick auf Dünn, Hübsch auf Hässlich und Arm auf Reich. Hier in Delhi ist letzteres allerdings eher unüblich, zumindest wenn man die Extreme zum Maßstab nimmt. Die reiche Oberschicht der Stadt fährt generell mit dem Auto, sie zieht die vollen Straßen der oft überfüllten Metro vor. Und die arme Unterschicht, die in den Slums zuhause ist, bewegt sich wenn, dann auch anders fort.
Deswegen war es schon allein bemerkenswert, dass ich auf dem Weg zum Fußballspielen am Sonntagabend Frauen mit mehreren Kindern auf dem Fußboden der Metro sitzen sah, die ihrem Aussehen nach zu urteilen in sehr ärmlichen Verhältnissen wohnen. Die Kinder trugen zerrissene Kleidung. Ein Kleinkind hatte nur einen Pullover an und war halbnackt.
Zuerst bekam ich mit, wie eine Mutter anscheinend mit ihrem Kind schimpfte und ihm offensichtlich eine kräftige Schelle verpasste, jedenfalls heulte der Nachwuchs danach erst einmal. Die Frauen hatten sich allerdings etwas weiter weg von mir niedergelassen, sodass drei der Kinder unbeaufsichtigt auf dem Boden krabbelten. Die Zeit vertrieben sie sich damit, anderen Fahrgästen die Schnürsenkel aufzumachen. Keine Mutter war da, die ihnen sagte, dass man so etwas nicht macht. Zwischendurch sammelte eine Frau noch ein Kleinkind ein, das eine leere Flasche auf einen leeren Sitzplatz pfefferte – die Flasche blieb dort einfach liegen.
Die anderen Passagiere reagierten überwiegend belustigt auf das Szenario, das sich vor ihnen abspielte. Auf mich wirkte es – etwas überspitzt formuliert – so, als ob sie sich über Affen im Zoo amüsierten. Wahrscheinlich beruhte ihre Gelassenheit auf dem Gefühl der Überlegenheit. Die Frauen und Kinder setzten sich wie selbstverständlich auf den Boden und nahmen nicht einmal einen leer gewordenen Platz ein. Das Kastensystem lässt grüßen.
Natürlich war ihr Verhalten gemessen an den Vorstellungen der Mittel- und Oberschicht vollkommen unangemessen. In Deutschland hätten wahrscheinlich wenigstens ein paar ältere, geschminkte Damen dieses Benehmen mit einem tadelnden Hüsteln und einem Kopfschütteln quittiert.
 Während ich die Situation mitverfolgte, habe ich mich an meine Arbeit in der Schule erinnert gefühlt. Wahrscheinlich würden sich viele meiner Schülerinnen und Schüler in der Metro ähnlich verhalten. In der Schule fällt es mir gar nicht mehr wirklich auf, wie frech und respektlos sie sind, weil es zum Alltag gehört. Aber schon bei einigen Ausflügen – etwa ins National Museum – konnte ich sehen, wie es ist, wenn sie ins anderen Delhi kommen, raus aus dem Wellblechhüttendorf, in dem unsere Wertvorstellungen nicht gelten. Prügeleien sind auf dem Schulgelände auf der Tagesordnung. Ich warte nur auf den Tag, an dem ich auch ein blaues Auge bekomme, weil ich zwei ineinander verkeilte Jungs voneinander befreie.
Aber woher sollen sie auch das, was wir unter „gutem Benehmen“ verstehen, lernen? Von ihren Eltern oftmals nicht, schließlich guckten mich selbst die Mütter ganz gespannt an, als ihre Zöglinge mir provokant den Mittelfinger zeigten. Dieser Vorfall zeigt, wie wenig Respekt vor dem Mitmenschen zum Teil in diesem Milieu herrscht.
So ist es auch kaum verwunderlich, dass die meisten Vergewaltiger der 23-jährigen Studentin, deren Fall für so großes Aufsehen weit über Indien hinaus sorgte, aus einem Slum im Süden von Delhi kommen.
Natürlich ist ihr Verhalten nicht zu entschuldigen, aber jeder Mensch wird von seinem sozialen Hintergrund geprägt. Im Vergleich zur Situation in Indien ist die Diskussion über mangelnde Chancengleichheit im deutschen Schulsystem ein Witz. Die staatlichen Schulen hier haben einen miserablen Ruf, Klassen mit mindestens 60 Schülern sind normal. Dass da inhaltlich nicht viel hängen bleiben kann bei den Schülern, versteht sich von selbst. Deshalb schickt jeder, der das nötige Kleingeld hat, sein Kind auf eine Privatschule. Das löst aber keines der vielen gesellschaftlichen Probleme, es verschärft sie vielmehr.
Wenn Indien einen nachhaltigen Fortschritt erleben möchte, dann muss es in sein Bildungssystem investieren. Die Schule kann als einzige Institution dafür sorgen, dass alle Kinder auf einem Niveau sind – hinsichtlich ihres Wissens und ihres Verhaltens. Denn Werte zeichnen ein jedes Land aus. Zu Indiens Werten gehört es sicherlich nicht, dass Frauen vergewaltigt werden, Kinder unbeaufsichtigt auf dem Boden der Metro herumkrabbeln und die Unterschicht herablassend behandelt wird. Damit sich das in den Köpfen der Bevölkerung festsetzt, müssen Kinder aus armem und reichem Elternhaus schon in der Schule aufeinander treffen – und nicht erst durch Zufall im Waggon der Metro.

In meinem neuesten, in der Nordwest Zeitung erschienenen Artikel beklage ich mich über die täglichen Tricksereien und Betrügereien: 
http://www.nwzonline.de/cloppenburg/wirtschaft/zwischen-geschaeftemacherei-und-betrug_a_2,0,1156463165.html

Und während alle Welt über den üblen Smog in Peking redet, ist es hier in Delhi eigentlich noch viel schlimmer: http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2013-02/smog-delhi-indien/komplettansicht

4 Kommentare:

  1. "Slum-Kinder" oft auch gut erzogen

    Ich möchte mich in diesem Kommentar nur kurz auf eine Punkt beziehen, nämlich, dass die Kinder aus sehr ärmlichen Verhältnissen durch unzureichende Erziehung der Eltern in der Regel ein schlechtes, unsoziales Benehmen an den Tag legten.
    Ich arbeite wie Benjamin in einer NGO mit Kindern (seit einem Jahr), die aus einer hier als "Slum" definierten Region kommen und muss sagen, dass ich in Bezug auf das soziale Verhalten der Kinder viele Erfahrungen gemacht habe, die im Gegensatz zu den im Artikel genannten stehen.
    So behandeln die Kinder vor allem alle Erwachsenen mit einem besonderen Respekt (wie ich ihn in Deutschland noch nie erlebt habe), teilen ihr Essen und Spielzeug gutmütig untereinander auf und übernehmen auch in sehr jungem Alter schon Verantwortung für ihre kleineren Freunde und Geschwister. Und aus Gesprächen mit den Eltern kann ich entnehmen, dass es gerade diesen sehr wichtig ist, dass ihr Kind ein gutes Benehmen an den Tag legt.
    Wahrlich sind die Jungen bei mir keine kleinen Engel. Sie raufen sich viel, spielen Streiche und müssen auf Ausflügrn oft ermahnt werden, sich angemessen zu verhalten.
    Jedoch haben wirklich alle eine sehr stark ausgeprägte soziale Ader und wissen auch meist genau, wenn sie sich falsch benehmen (Von anderen Freiwilligen habe ich das gleiche gehört).
    In dem Artikel wird von anderen Kindern berichtet. Die gibt es sicherlich.
    Mir ist es nur wichtig, dass man beim Lesen beachtet, dass auch in "Slum"-Gebieten sehr viele Kinder von Haus aus ein gutes Benehmen und vor allem Sozialität beigebracht bekommen.

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    1. Du hast Recht, es könnte womöglich der Eindruck entstehen, dass sich alle Kinder unsozial benehmen. Einige der von dir angesprochenen Punkte kann ich auch bestätigen.
      Mir war es vor allem wichtig, deutlich zu machen, wie groß die Unterschiede zwischen sogenanntem "Verhalten" und der Wahrnehmung durch andere Menschen teilweise sind.
      Das mit dem fast schon ehrfürchtigen Respekt vor Erwachsenen stimmt sicherlich auch. Sobald mir was runterfällt, bückt sich sofort ein Kind und hebt es mir auf. Trotzdem haben es die anderen Lehrerinnen und ich oft schwer, die Kinder zu bändigen.
      Und gegenüber kleineren Geschwistern und Freunden besteht sicherlich ein Beschützerinstinkt, der endet aber zu oft dann auch wieder in Prügeleien mit anderen Kindern - die Fäuste fliegen meiner Meinung nach sowieso viel zu oft hier.
      Also, guter Einwand von dir, den die Leser hoffentlich berücksichtigen!

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    3. Ich würde sagen, es gibt beide Sorten Kinder. Die meisten sind lieb und höflich, einige aber nicht. Und gerade die sind diejenigen, die später eine Gewalttat begehen, wie unlängst in Neu-Delhi.

      Beide Sichten haben ihre Berechtigung. Ohne das Kind mit dem Badewasser rauswerfen zu wollen plädiere ich dafür, ein Perspektive einzunehmen, die beide Sichten als ihre Spektrumsenden beinhaltet - sowohl als auch. Und letzten Endes ist es die Liebe, die den Kindern in ihrem Zuhause, ob Slum oder gutbürgerlich, begleitet, die den Unterschied ausmacht. Manche Kinder bekommen leider nicht genug davon. gloria.lindberg@gmail.com
      PS Ich wollte sagen, Ihr macht das alle wirklich ganz TOLL.

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