Samstag, 22. Dezember 2012


Grenzgänger auf verschiedenem Terrain


Ein Europa ohne Grenzen – bisher ist das wohl immer noch mehr eine Vision als die Realität. Dennoch ist wohl jede Grenze in Europa nichts gegen die Grenze, die ich bei meinem Trip nach Amritsar kennenlernte. Es ging an diesem Wochenende bei näherer Betrachtung generell viel um Grenzen und Grenzenlosigkeit.
Los Richtung Nordwesten ging es um 20.15 Uhr am Freitagabend, zusammen mit den Mitfreiwilligen Tine und Liane sowie Arne, der zurzeit zu Besuch bei einem anderen Freiwilligen in Delhi ist. Im Sleeper-Wagen erwartete uns eine unruhige Nacht. Dafür war das Ticket günstig, die Hin- und Rückfahrt kostete pro Kopf etwas mehr als sechs Euro. Dass der Zug für die knapp 500 Kilometer pro Strecke zwölf Stunden brauchen würde, erschien uns zunächst unverständlich. Wenn man allerdings das letztendliche Durchschnitts-Tempo und die Haltezeit an vielen kleinen Bahnhöfen in Betracht zieht, erklärt sich die Fahrtzeit von selbst. Dass am Bahnhof ein Plakat die indische Bahn als „Stolz der Nation“ (man stelle sich das einmal bei der Deutschen Bahn vor) adelt, mutet da ein bisschen merkwürdig an, auch wenn unser Abteil für den Preis in Ordnung war. Wir hatten jeder eine relativ unbequeme Liege und kein abgetrenntes Abteil, was uns aber nur gelegentlich Gaffern ausgesetzt hat. Anstrengender waren da vor allem auf der Hinfahrt die schnarchenden Mitfahrer.

Am Bahnhof in New Delhi - Nizzamuddin

Kurz vor Amritsar. Aufnahme aus dem fahrenden Zug

Amritsar ist ein lohnendes Reiseziel, obwohl es nur zwei Highlights bietet.

Die Grenzenlosigkeit des Sikhismus bekamen wir am Goldenen Tempel, dem Heiligtum dieser Religionsgemeinschaft zu spüren. Das in Gold erstrahlende Gotteshaus wird von einem See, dem „heiligen Wasser“ umgeben, an dessen Ufer man die Anlage einmal umrunden kann. Jeder Mensch ist hier willkommen, vorausgesetzt er läuft barfuß und bedeckt seinen Kopf, es gibt also keine Abgrenzung.
Trotz der Vielzahl der Besucher und Betenden ist es hier außerdem angenehm ruhig.

Der Goldene Tempel umgeben vom Heiligen Wasser.

Das Strahlen des Tempels steckte auch Liane an.

Bootstour auf dem "Heiligen Wasser".
Im Hintergrund ein Eingangstor zum Tempelbereich

Laut wird es dagegen beim Abwasch der größten Gratisküche der Welt. Jeder ist eingeladen, auf dem Boden des Speisesaals eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Wer kann, wird am Ausgang um eine Spende gebeten. Und selbstverständlich darf auch jeder mithelfen, ob beim Gemüse schneiden oder Abspülen. Tine und ich haben uns am Sonntag für das Erbsenpulen entschieden und dabei interessante Bekanntschaften gemacht. So wurde ich etwa von einer Gleichaltrigen nach meiner Kaste gefragt – so viel vorerst zur offiziellen Abschaffung des Kastenwesens – und dann verwundert angeschaut, als ich antwortete, ich habe keine Kaste.

Das schmutzige Geschirr aus Stahl wurde zum
Abwasch geworfen

Untergekommen sind wir ebenfalls in unmittelbarer Nähe zum Tempel, in der kostenlosen Backpacker-Unterkunft für Ausländer, bei der auch nur um eine Spende gebeten wird. Eine kleine Grenze zeigt sich hier schon, schließlich schliefen die indischen Pilger massenweise auf dem Platz in der Mitte, was uns auch nicht gestört hätte.

Schlafsaal der indischen Pilger

Der Besuch des Goldenen Tempels war der besinnliche Teil und das eigentliche Ziel unserer Reise. Dennoch: Wer in Amritsar zu Besuch ist, für den ist die tägliche Grenzschließungszeremonie an der 30 km entfernt liegenden pakistanischen Grenze ein Muss. Zwar wird sehr viel Wind um einen an Lächerlichkeit grenzenden Hahnenkampf gemacht, aber imposant ist der Übergang von Indien nach Pakistan allemal.
Stacheldraht trennt die beiden verfeindeten Staaten, die sich seit der Unabhängigkeit von Großbritannien unter anderem um den Landesteil Kaschmir streiten. Im Moment ist es kein bewaffneter Konflikt, und wie das „Sunday Tribune“ berichtet, wurden ausgerechnet in letzter Zeit einige Abkommen, wie etwa zur Vereinfachung des Grenzverkehrs, geschlossen. Da mutet die Zeremonie gleich noch ein bisschen mehr wie ein aus der Zeit gefallenes Event an.

Hochgesicherter Grenzbereich

Massenweise strömten die Inder auf die Besuchertribünen, und auch die pakistanische Seite ließ sich nicht lumpen. Nach Angaben unseres Fahrers wohnten am Sonnabend gut 30000 Zuschauer dem Spektakel bei, in Wirklichkeit waren es geschätzt etwa 10000. Als Ausländer bekamen wir spezielle Plätze direkt am Straßenrand, von denen die Aussicht allerdings nicht wirklich besonders war. Was ich sah, zauberte mir aber zumindest ein amüsiertes Lächeln auf die Lippen.

Die indische Seite, repräsentiert durch den
Nationalhelden Mahatma Gandhi

Etwas weiter entfernt die Pakistaner. Wer weiß,
wer porträtiert ist? Ich weiß es nicht

Die Soldaten beider Staaten trugen eine Kopfbedeckung, die von einem Hahnenkamm nicht weit entfernt war. In aberwitziger Manier marschierten sie eine gute Viertelstunde lang in Richtung Grenztor, wobei sich der ein oder andere fast seinen Kamm mit dem Fuß vom Kopf schlug.



Impressionen von der Parade

Unterdessen brachte ein Animateur im weißen Indien-Trainingsanzug die eine Seite des Tores in Stimmung. Im Wechsel mit ihm brüllten die Zuschauer den Schlachtruf „Lang lebe Hindustan“. Doch auch die Pakistaner waren keinesfalls ruhig, was nichts daran änderte, dass die ganze Prozedur völlig überzogen war angesichts ihres Zieles: Am Ende wurden die Fahnen eingezogen und die Grenze gegen 17 Uhr geschlossen, um am nächsten Morgen um 9 Uhr wieder zu öffnen.

Die Flaggen werden eingeholt

Dann ist das Grenztor geschlossen

Das war auch zwingend notwendig, denn auf der indischen Seite warteten handgezählt über 500 Lastwagen darauf, den Übergang zu passieren.

Die Lastwagenkolonne, aufgenommen durch die
Windschutzscheibe

Laut Informationen unseres Fahrers werden täglich 215 Fahrzeuge abgefertigt. Es wären sicherlich ein wenig mehr, wenn man dieses etwas altertümliche Szenario vor Sonnenuntergang sein ließe. Schließlich – dieser Eindruck bleibt – dient es nicht zuletzt der Radikalisierung der Zuschauer.
Wir waren genauso radikal oder eben nicht radikal wie zuvor, als wir nach erneuten zwölf Stunden Delhi am Montagmorgen gegen 4 Uhr erreichten. Auf dem Weg aus dem Bundesstaat Punjab nach Delhi waren wir durch UP West gereist und hatten somit noch zwei unsichtbare Grenzen passiert.
Nach diesem Wochenende als vielfacher Grenzgänger bleibt mir vor allem eine Erkenntnis: Am liebsten ist mir immer noch die Grenzenlosigkeit des Sikhismus.

Ein letzter Panorama-Blick über den Tempelbereich

Unsere Reisegruppe ein letztes Mal vor dem Tempel

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