Wir wissen wie es ist, allein zu sein, Sir!
Der erste echte Besuch meiner Aufnahmeorganisation, der
Kalakar Vikas School, er wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Eigentlich
sollten Joey und ich schon anfangen zu arbeiten, doch am Ende wurde daraus doch
nur ein kurzer Rundgang. Aber alles der Reihe nach. Denn hinter uns liegt ein
ziemlich ereignisreiches Wochenende.
Den Sonntag verbrachten wir mit anderen Freiwilligen in den
verschiedensten Ecken Delhis. Das erste Mal bekam ich zu Gesicht, wie vielfältig
die Stadt ist. In mehrerer Hinsicht. Das krasseste Beispiel für die Vielfalt
ist der viel beschworene Gegensatz zwischen Arm und Reich. Er wird mich wohl
ein Jahr lang begleiten. Wir trafen die anderen Freiwilligen am Connaught
Place, mitten im Herzen Delhis, einem typischen Touristenpunkt. Wo Touristen
erwartet werden, sind natürlich auch jede Menge Bettler. Kinder, die um Geld
flehen. Oder alte Frauen. Ein wirklich unangenehmes Gefühl, sie belagern uns
Deutsche regelrecht. Und wer sie wie ich ignoriert, muss schon mal damit
rechnen, gekniffen zu werden. Überhaupt habe ich das Pech, praktisch die ganze
Zeit mit einem Fast-Inder herumzulaufen. Joeys Vater ist Ägypter, sodass die
Inder ihn fast immer für einen von ihnen halten. Ich als blasser, weißer Deutscher
falle da noch mehr auf. Das geht so weit, dass die Kinder in dem Slum, in dem
die Kalakar Vikas School liegt, mich mit großen Augen anschauen und freundlich
grüßen, während Joey ja nur irgendein anderer Inder ist. Ein ganz freches
Mädchen hat mir auch gleich schon mal die Hand gegeben. Aber eigentlich wollte
ich erst später auf meinen ersten Besuch der Schule zu sprechen kommen. Vorher,
genauer genommen am Samstagabend, war da ja noch die Geschichte mit der Maus.
Die Maus, die durch
den Ventilator kam. Noch wohnen wir ja nicht im neu renovierten Haus,
sondern in einer ziemlich einfachen Mietswohnung. In unserem Zimmer gab es zwei
Ventilatoren. Ventilatoren sind lebensnotwendig. Abends haben wir die Wahl
zwischen zwei Übeln: Einem ultimativen Schweißbad bei angenehmer Ruhe, weil der
Ventilator an der Decke ausgeschaltet
ist. Oder einem wenigstens schwer erträglichen Schweißbad beim Lärm
unseres rotierenden Freundes. Wir entscheiden uns immer für letzteres, um nicht
im Wasserbett schlafen zu müssen.
Jetzt schreibe ich schon wieder über den Ventilator und die
drückende Schwüle. Dabei sollte es doch eigentlich um die Maus gehen. Die hat
uns nämlich einen Ventilator geraubt und gleichzeitig mehr Sicherheit
geschenkt. Direkt neben meinem Bett ist ein Fenster, das nur notdürftig
verriegelt war. Immerhin hat es einen eingebauten Ventilator. Durch irgendeine
dieser Öffnungen fiel am Samstagabend ein graues Bündel. Joey hat es sofort als
Maus identifiziert. Doch trotz halbstündiger Suche blieb unser neuer Mitbewohner
unauffindbar. Wir setzten unsere Gastfamilie in Kenntnis, und schon
bewahrheitete sich, was Joey befürchtet hatte. Die Familie war in Aufruhr. Es
wurde wild auf Hindi diskutiert, mit dem Resultat, dass wir eine Mausefalle ins
Zimmer bekamen. Schwitzend lag ich umgeben von meinem Moskito-Zelt in meinem
Bett, als auf einmal ein kurzer, aber lauter Schlag ertönte. Auch Joey
schreckte hoch. Die Maus war gefangen. Sie lief in der Falle herum und wir
schliefen beruhigt ein. Seit Sonntag ist das brüchige Fenster niet- und
nagelfest verriegelt. Danke, liebe Maus, für deinen Einsatz!
Jetzt können wir in Ruhe schlafen, und Schlaf brauchen wir
auch dringend bei dem, was uns in den kommenden Wochen und Monaten erwartet.
Aufgeweckte, freundliche Kinder in einer der schmutzigsten Gegenden Delhis.
Schon der Geruch im Slum Kathputli Colony
verrät, dass hier auf Hygiene nicht sonderlich geachtet wird. Zum Glück ist
die Schule verhältnismäßig geruchsneutral. Priya heißt uns willkommen und führt
uns durch die einfachen Gebäude. Sie erzählt uns, dass vormittags die Jungen
und nachmittags die Mädchen kommen. Als wir da sind, werden gerade die Mädchen
unterrichtet. Nachdem wir einen Klassenraum betreten haben, stellt uns die
unterrichtende Lehrkraft als neue Freiwillige vor. Strahlend begrüßen uns die
Mädchen mit einem lauten „Welcome, Sir!“. Na also! Wobei mich das „Sir“ nicht
darüber hinwegtäuschen kann, dass ich einige Kraft benötigen werde, um diese Meute
zu bändigen. Ganz zu schweigen von den Sprachbarrieren. Viele der jüngeren
Schüler sprechen gar kein Englisch oder nur sehr wenig. Erste Erfahrungen
machten wir, als wir am Ende noch einmal alleine einen Rundgang über das
Gelände unternahmen. Mich, den offensichtlichen Ausländer, quatschte ein Kind
auf Hindi an und wollte partout nicht verstehen, dass ich nur Englisch spreche.
Es blieb bei einer sehr kurzen Konversation; man kann sagen, wir redeten
aneinander vorbei…
Leichter fiel uns da schon die Verständigung mit der Gruppe
Jungen, die am Skypen mit Yannick war, einem unserer Vorgänger. Sofort nahmen
die Jungs uns begeistert auf und hatten gleich Vorschläge, was wir doch mit
ihnen machen könnten. Wir mussten sie vertrösten, aber auch sie sprachen uns
Mut zu. Einer von ihnen – die Namen muss ich noch lernen! – sagte uns, wir
sollten uns keine Sorgen machen. Sie wüssten, wie es ist ohne Eltern und
Familie zu leben und sich allein zu fühlen. Sie sind teilweise ohne Mutter und
Vater aufgewachsen. Das ist eben auch eine der vielen Realitäten in Indien…
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