Montag, 17. September 2012


Wir wissen wie es ist, allein zu sein, Sir!


Der erste echte Besuch meiner Aufnahmeorganisation, der Kalakar Vikas School, er wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Eigentlich sollten Joey und ich schon anfangen zu arbeiten, doch am Ende wurde daraus doch nur ein kurzer Rundgang. Aber alles der Reihe nach. Denn hinter uns liegt ein ziemlich ereignisreiches Wochenende.

Den Sonntag verbrachten wir mit anderen Freiwilligen in den verschiedensten Ecken Delhis. Das erste Mal bekam ich zu Gesicht, wie vielfältig die Stadt ist. In mehrerer Hinsicht. Das krasseste Beispiel für die Vielfalt ist der viel beschworene Gegensatz zwischen Arm und Reich. Er wird mich wohl ein Jahr lang begleiten. Wir trafen die anderen Freiwilligen am Connaught Place, mitten im Herzen Delhis, einem typischen Touristenpunkt. Wo Touristen erwartet werden, sind natürlich auch jede Menge Bettler. Kinder, die um Geld flehen. Oder alte Frauen. Ein wirklich unangenehmes Gefühl, sie belagern uns Deutsche regelrecht. Und wer sie wie ich ignoriert, muss schon mal damit rechnen, gekniffen zu werden. Überhaupt habe ich das Pech, praktisch die ganze Zeit mit einem Fast-Inder herumzulaufen. Joeys Vater ist Ägypter, sodass die Inder ihn fast immer für einen von ihnen halten. Ich als blasser, weißer Deutscher falle da noch mehr auf. Das geht so weit, dass die Kinder in dem Slum, in dem die Kalakar Vikas School liegt, mich mit großen Augen anschauen und freundlich grüßen, während Joey ja nur irgendein anderer Inder ist. Ein ganz freches Mädchen hat mir auch gleich schon mal die Hand gegeben. Aber eigentlich wollte ich erst später auf meinen ersten Besuch der Schule zu sprechen kommen. Vorher, genauer genommen am Samstagabend, war da ja noch die Geschichte mit der Maus.

Die Maus, die durch den Ventilator kam. Noch wohnen wir ja nicht im neu renovierten Haus, sondern in einer ziemlich einfachen Mietswohnung. In unserem Zimmer gab es zwei Ventilatoren. Ventilatoren sind lebensnotwendig. Abends haben wir die Wahl zwischen zwei Übeln: Einem ultimativen Schweißbad bei angenehmer Ruhe, weil der Ventilator an der Decke ausgeschaltet  ist. Oder einem wenigstens schwer erträglichen Schweißbad beim Lärm unseres rotierenden Freundes. Wir entscheiden uns immer für letzteres, um nicht im Wasserbett schlafen zu müssen.

Jetzt schreibe ich schon wieder über den Ventilator und die drückende Schwüle. Dabei sollte es doch eigentlich um die Maus gehen. Die hat uns nämlich einen Ventilator geraubt und gleichzeitig mehr Sicherheit geschenkt. Direkt neben meinem Bett ist ein Fenster, das nur notdürftig verriegelt war. Immerhin hat es einen eingebauten Ventilator. Durch irgendeine dieser Öffnungen fiel am Samstagabend ein graues Bündel. Joey hat es sofort als Maus identifiziert. Doch trotz halbstündiger Suche blieb unser neuer Mitbewohner unauffindbar. Wir setzten unsere Gastfamilie in Kenntnis, und schon bewahrheitete sich, was Joey befürchtet hatte. Die Familie war in Aufruhr. Es wurde wild auf Hindi diskutiert, mit dem Resultat, dass wir eine Mausefalle ins Zimmer bekamen. Schwitzend lag ich umgeben von meinem Moskito-Zelt in meinem Bett, als auf einmal ein kurzer, aber lauter Schlag ertönte. Auch Joey schreckte hoch. Die Maus war gefangen. Sie lief in der Falle herum und wir schliefen beruhigt ein. Seit Sonntag ist das brüchige Fenster niet- und nagelfest verriegelt. Danke, liebe Maus, für deinen Einsatz!

Jetzt können wir in Ruhe schlafen, und Schlaf brauchen wir auch dringend bei dem, was uns in den kommenden Wochen und Monaten erwartet. Aufgeweckte, freundliche Kinder in einer der schmutzigsten Gegenden Delhis. Schon der Geruch im Slum Kathputli Colony verrät, dass hier auf Hygiene nicht sonderlich geachtet wird. Zum Glück ist die Schule verhältnismäßig geruchsneutral. Priya heißt uns willkommen und führt uns durch die einfachen Gebäude. Sie erzählt uns, dass vormittags die Jungen und nachmittags die Mädchen kommen. Als wir da sind, werden gerade die Mädchen unterrichtet. Nachdem wir einen Klassenraum betreten haben, stellt uns die unterrichtende Lehrkraft als neue Freiwillige vor. Strahlend begrüßen uns die Mädchen mit einem lauten „Welcome, Sir!“. Na also! Wobei mich das „Sir“ nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass ich einige Kraft benötigen werde, um diese Meute zu bändigen. Ganz zu schweigen von den Sprachbarrieren. Viele der jüngeren Schüler sprechen gar kein Englisch oder nur sehr wenig. Erste Erfahrungen machten wir, als wir am Ende noch einmal alleine einen Rundgang über das Gelände unternahmen. Mich, den offensichtlichen Ausländer, quatschte ein Kind auf Hindi an und wollte partout nicht verstehen, dass ich nur Englisch spreche. Es blieb bei einer sehr kurzen Konversation; man kann sagen, wir redeten aneinander vorbei…

Leichter fiel uns da schon die Verständigung mit der Gruppe Jungen, die am Skypen mit Yannick war, einem unserer Vorgänger. Sofort nahmen die Jungs uns begeistert auf und hatten gleich Vorschläge, was wir doch mit ihnen machen könnten. Wir mussten sie vertrösten, aber auch sie sprachen uns Mut zu. Einer von ihnen – die Namen muss ich noch lernen! – sagte uns, wir sollten uns keine Sorgen machen. Sie wüssten, wie es ist ohne Eltern und Familie zu leben und sich allein zu fühlen. Sie sind teilweise ohne Mutter und Vater aufgewachsen. Das ist eben auch eine der vielen Realitäten in Indien…

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