Dienstag, 1. Januar 2013


Wandel aus der Mitte


Indien ist in Aufruhr - so sehr, dass selbst deutsche Medien über die teilweise gewaltsamen Demonstrationen für mehr Frauenrechte berichten. In Delhi, dem Epizentrum der Protestwelle, gehen überwiegend junge Frauen und Männer seit Tagen auf die Straße. Sie fordern mehr Sicherheit für Frauen und eine härtere Strafverfolgung bei sexuellen Übergriffen.
Auslöser war die brutale Vergewaltigung einer 23-jährigen Studentin, die am 16. Dezember abends in einem Privatbus von sechs Männern eine Stunde lang missbraucht und mit einer Eisenstange schwer verletzt wurde. Ihr Freund, mit dem sie sich auf dem Rückweg von einem Kinobesuch befand, wurde vorher bewusstlos geschlagen. Nach der perversen Tat wurden beide aus dem fahrenden Bus geworfen.
Zwei Wochen lang hat die junge Frau ums Überleben gekämpft, sie wurde mehrmals notoperiert und sogar nach Singapur ausgeflogen (s. untenstehender Link). Es hat alles nicht geholfen, am Wochenende ist sie gestorben. Doch mit ihrem Tod ist der Protest erneut aufgeflammt.
Ich habe die Protesten noch nicht unmittelbar mitbekommen, sie erstrecken sich offenbar auf das Regierungsviertel nahe des Stadtzentrums. Am Heiligabend sowie am vergangenen Wochenende waren allerdings zahlreiche Metrostationen in Zentrumsnähe geschlossen, was mich zum Glück nicht beeinträchtigt hat.
Die Täter wurden mittlerweile – entgegen dem Regelfall – schnell gefasst. Ihnen soll nun zügig der Prozess gemacht werden, und geht es nach den Demonstranten, ist das Urteil eindeutig: die Todesstrafe. Sie wird in Indien nur noch selten angewendet, das letzte Mal allerdings im November dieses Jahres, als der einzig überlebende Attentäter der Anschläge von Mumbai, ein Pakistaner, erhängt wurde.
An sich sind die Strafen für Vergewaltigungen in Indien schon hoch genug, als Höchststrafe kann lebenslange Haft verhängt werden. Allein die Korruption in Polizei- und Justizkreisen verhindert allzu oft eine konsequente Bestrafung der Täter. (Im Artikel, der am Freitag in der Nordwest Zeitung erschienen ist und der unten verlinkt ist, äußert sich eine meiner Kolleginnen dazu.) Das Kastensystem ist immer noch präsent. Wenn ein Mann einer höheren Kaste eine in der gesellschaftlichen Hierarchie unter ihm stehende Frau missbraucht, wird er oft nicht verfolgt, berichtet etwa sueddeutsche.de.
Und hier liegt für mich der Kern des Problems: Indien hat nicht nur ein Frauenrechtsproblem, sondern ein darüber hinausgehendes Defizit an Gleichberechtigung. Hier zeigt sich, dass Gesetze selten eine tiefgreifende Veränderung bewirken können. Trotz der offiziellen Abschaffung des Kastensystems 1948 (!) wird in Zeitungsanzeigen, in denen nach Heiratspartnern gesucht wird, noch immer die Kaste angegeben.
Einerseits trägt sicherlich der korrupte und ineffiziente Staatsapparat eine Mitschuld. Andererseits ist es jedoch schwierig, einen gesellschaftlichen Prozess zu forcieren, wenn fest verankerte Hierarchien den Alltag bestimmen und mehr oder weniger stillschweigend geduldet werden.
Womöglich hat dieser Fall das Potenzial einen solchen Wandel voranzutreiben, ähnlich wie der Tod des tunesischen Gemüseverkäufers, der durch seine Selbstverbrennung den Arabischen Frühling initiierte. Und dennoch sind es zwei völlig entgegengesetzte Beispiele.
Während in den arabischen Ländern Diktatoren unfreie Gesetze erließen, ist Indien offiziell ein demokratischer Staat, wenngleich die Umsetzung der Demokratie an vielen Stellen mangelhaft ist.
Manche Dinge entziehen sich aber auch der Macht eines Staates. So stehen selbst in Delhi arrangierte Hochzeiten noch auf der Tagesordnung, ich selbst werde im April Zeuge einer solchen werden. Dabei möchte ich im konkreten Fall gar nicht beurteilen, ob beide Partner darüber glücklich sind oder nicht, das mag von Fall zu Fall tatsächlich unterschiedlich sein. Dieses Relikt  aus alten Zeiten nimmt jedoch jungen Menschen ihre Wahlfreiheit.
Viele junge Inder hängen fest zwischen Tradition und Moderne: Sie tragen Jeans und Hemden von internationalen Marken, aber werden mit einer von den Eltern ausgewählten Frau verheiratet.
Es deutet sich ein langsamer, schleichender Wandel an, das ist zumindest mein Eindruck. Ich bin mir auch sicher, dass es unmöglich ist, in Zeiten einer aufstrebenden indischen Mittel- und Oberschicht ein solch archaisches System aufrecht zu erhalten.
Die Frage ist, ob der Fortschritt wieder nur einem verhältnismäßig kleinem Teil der Bevölkerung zugute kommt, oder ob dieses Mal auch die Vielzahl der „Namenlosen“, der Armen, davon profitiert.
Das Opfer vom 16. Dezember ist eine Repräsentantin der kleinen Mittelschicht, nur deshalb kam es wahrscheinlich überhaupt zu den Protesten. Ich bin gespannt, ob es nachhaltige Veränderungen geben wird und wie sie aussehen werden. Im Moment habe ich die einmalige Chance, dem Beginn eines möglichen gesellschaftlichen Wandels beizuwohnen.
Es ist an der Zeit, dass die größte Demokratie der Welt dem urdemokratischen Prinzip der Gleichheit ein neues, aus seiner Mitte kommendes Gewicht verleiht.

Hier der Link zu dem auf nwzonline.de erschienen Artikel von mir. Leider sind die Agentur-Informationen längst wieder überholt:

http://www.nwzonline.de/panorama/vergewaltigungsopfer-in-singapur-operiert_a_2,0,229426207.html

An dieser Stelle allen ein

Frohes Neues Jahr


Silvester in Indien war übrigens überraschend ruhig - so gut wie kein Feuerwerk. Wahrscheinlich haben es die Inder schon im Laufe des Jahres verpulvert, war mein erster Gedanke.
Tatsächlich hängt die eingeschränkte, öffentliche Feierei wohl auch mit dem Tod der Studentin zusammen. Laut sueddeutsche.de haben viele Clubs ihre Partys im Vorfeld abgesagt. Zu spüren waren strenge Vorschriften schon am Wochenende: Die Öffnungszeiten der Night-Clubs, aber auch einiger Läden sind vorübergehend eingeschränkt.

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