Wandel aus der Mitte
Indien ist in Aufruhr - so
sehr, dass selbst deutsche Medien über die teilweise gewaltsamen
Demonstrationen für mehr Frauenrechte berichten. In Delhi, dem Epizentrum der
Protestwelle, gehen überwiegend junge Frauen und Männer seit Tagen auf die Straße. Sie fordern
mehr Sicherheit für Frauen und eine härtere Strafverfolgung bei sexuellen
Übergriffen.
Auslöser war die brutale
Vergewaltigung einer 23-jährigen Studentin, die am 16. Dezember abends in einem
Privatbus von sechs Männern eine Stunde lang missbraucht und mit einer
Eisenstange schwer verletzt wurde. Ihr Freund, mit dem sie sich auf dem Rückweg
von einem Kinobesuch befand, wurde vorher bewusstlos geschlagen. Nach der
perversen Tat wurden beide aus dem fahrenden Bus geworfen.
Zwei Wochen lang hat die junge
Frau ums Überleben gekämpft, sie wurde mehrmals notoperiert und sogar nach
Singapur ausgeflogen (s. untenstehender Link). Es hat alles nicht geholfen, am
Wochenende ist sie gestorben. Doch mit ihrem Tod ist der Protest erneut
aufgeflammt.
Ich habe die Protesten
noch nicht unmittelbar mitbekommen, sie erstrecken sich offenbar auf das
Regierungsviertel nahe des Stadtzentrums. Am Heiligabend sowie am vergangenen
Wochenende waren allerdings zahlreiche Metrostationen in Zentrumsnähe
geschlossen, was mich zum Glück nicht beeinträchtigt hat.
Die Täter wurden mittlerweile –
entgegen dem Regelfall – schnell gefasst. Ihnen soll nun zügig der Prozess
gemacht werden, und geht es nach den Demonstranten, ist das Urteil eindeutig:
die Todesstrafe. Sie wird in Indien nur noch selten angewendet, das letzte Mal
allerdings im November dieses Jahres, als der einzig überlebende Attentäter der
Anschläge von Mumbai, ein Pakistaner, erhängt wurde.
An sich sind die Strafen für
Vergewaltigungen in Indien schon hoch genug, als Höchststrafe kann lebenslange
Haft verhängt werden. Allein die Korruption in Polizei- und Justizkreisen
verhindert allzu oft eine konsequente Bestrafung der Täter. (Im Artikel, der am
Freitag in der Nordwest Zeitung erschienen ist und der unten verlinkt ist,
äußert sich eine meiner Kolleginnen dazu.) Das Kastensystem ist immer noch
präsent. Wenn ein Mann einer höheren Kaste eine in der gesellschaftlichen
Hierarchie unter ihm stehende Frau missbraucht, wird er oft nicht verfolgt,
berichtet etwa sueddeutsche.de.
Und hier liegt für mich der
Kern des Problems: Indien hat nicht nur ein Frauenrechtsproblem, sondern ein
darüber hinausgehendes Defizit an Gleichberechtigung. Hier zeigt sich, dass
Gesetze selten eine tiefgreifende Veränderung bewirken können. Trotz der
offiziellen Abschaffung des Kastensystems 1948 (!) wird in Zeitungsanzeigen, in
denen nach Heiratspartnern gesucht wird, noch immer die Kaste angegeben.
Einerseits trägt sicherlich
der korrupte und ineffiziente Staatsapparat eine Mitschuld. Andererseits ist es
jedoch schwierig, einen gesellschaftlichen Prozess zu forcieren, wenn fest
verankerte Hierarchien den Alltag bestimmen und mehr oder weniger
stillschweigend geduldet werden.
Womöglich hat dieser Fall das
Potenzial einen solchen Wandel voranzutreiben, ähnlich wie der Tod des
tunesischen Gemüseverkäufers, der durch seine Selbstverbrennung den Arabischen
Frühling initiierte. Und dennoch sind es zwei völlig entgegengesetzte
Beispiele.
Während in den arabischen
Ländern Diktatoren unfreie Gesetze erließen, ist Indien offiziell ein
demokratischer Staat, wenngleich die Umsetzung der Demokratie an vielen Stellen
mangelhaft ist.
Manche Dinge entziehen sich
aber auch der Macht eines Staates. So stehen selbst in Delhi arrangierte
Hochzeiten noch auf der Tagesordnung, ich selbst werde im April Zeuge einer
solchen werden. Dabei möchte ich im konkreten Fall gar nicht beurteilen, ob
beide Partner darüber glücklich sind oder nicht, das mag von Fall zu Fall
tatsächlich unterschiedlich sein. Dieses Relikt
aus alten Zeiten nimmt jedoch jungen Menschen ihre Wahlfreiheit.
Viele junge Inder hängen fest
zwischen Tradition und Moderne: Sie tragen Jeans und Hemden von internationalen
Marken, aber werden mit einer von den Eltern ausgewählten Frau verheiratet.
Es deutet sich ein langsamer,
schleichender Wandel an, das ist zumindest mein Eindruck. Ich bin mir auch
sicher, dass es unmöglich ist, in Zeiten einer aufstrebenden indischen Mittel-
und Oberschicht ein solch archaisches System aufrecht zu erhalten.
Die Frage ist, ob der
Fortschritt wieder nur einem verhältnismäßig kleinem Teil der Bevölkerung
zugute kommt, oder ob dieses Mal auch die Vielzahl der „Namenlosen“, der Armen,
davon profitiert.
Das Opfer vom 16. Dezember ist
eine Repräsentantin der kleinen Mittelschicht, nur deshalb kam es
wahrscheinlich überhaupt zu den Protesten. Ich bin gespannt, ob es nachhaltige
Veränderungen geben wird und wie sie aussehen werden. Im Moment habe ich die einmalige
Chance, dem Beginn eines möglichen gesellschaftlichen Wandels beizuwohnen.
Es ist an der Zeit, dass die
größte Demokratie der Welt dem urdemokratischen Prinzip der Gleichheit ein
neues, aus seiner Mitte kommendes Gewicht verleiht.
Hier der Link zu dem auf
nwzonline.de erschienen Artikel von mir. Leider sind die Agentur-Informationen längst
wieder überholt:
http://www.nwzonline.de/panorama/vergewaltigungsopfer-in-singapur-operiert_a_2,0,229426207.html
An dieser Stelle allen ein
Frohes Neues Jahr
Silvester in Indien war übrigens überraschend ruhig - so gut wie kein Feuerwerk. Wahrscheinlich haben es die Inder schon im Laufe des Jahres verpulvert, war mein erster Gedanke.
Tatsächlich hängt die eingeschränkte, öffentliche Feierei wohl auch mit dem Tod der Studentin zusammen. Laut sueddeutsche.de haben viele Clubs ihre Partys im Vorfeld abgesagt. Zu spüren waren strenge Vorschriften schon am Wochenende: Die Öffnungszeiten der Night-Clubs, aber auch einiger Läden sind vorübergehend eingeschränkt.
Tatsächlich hängt die eingeschränkte, öffentliche Feierei wohl auch mit dem Tod der Studentin zusammen. Laut sueddeutsche.de haben viele Clubs ihre Partys im Vorfeld abgesagt. Zu spüren waren strenge Vorschriften schon am Wochenende: Die Öffnungszeiten der Night-Clubs, aber auch einiger Läden sind vorübergehend eingeschränkt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen